Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
den
Säugling zu töten, ließ ihn sich dann aber widerstandslos aus dem Arm nehmen. Sie
wurde angeklagt, aber nicht ins Gefängnis, sondern in eine psychiatrische Klinik
geschickt. Nimmt mich wunder, ob sie noch dort ist.«
Zita Elmer
hatte kritisch zugehört. »Aber diese Frau möchte doch sicher ein niedliches Kind,
eines mit blonden Locken und blauen Augen oder so. Sie würde doch nicht so ein Verunstaltetes
rauben.«
»Eben«,
gab Streiff zurück, »es ist ja auch im Katzenbach gelandet.«
Zita zuckte
zusammen. »Du meinst …«
»Ja. Sie
sieht einen unbewachten Kinderwagen. Sie muss schnell handeln, greift hinein, ohne
genau hinzusehen, glaubt im ersten Moment vielleicht, das Baby trage dunkle Kleider,
eilt mit ihm weg – und bemerkt dann, wie es aussieht. Sie erschrickt zu Tode, wirft
es in den Bach und läuft davon.«
Es klopfte.
Ein Beamter brachte die Akte Bär. Streiff überflog sie. »Sie wurde damals ins Burghölzli
eingeliefert.« Er griff zum Telefon. Nach ein paar Minuten hatte er die Auskunft,
dass Lieselotte Bär vor drei Jahren aus der Klinik entlassen worden war, in einer
eigenen Wohnung lebte und regelmäßigen Kontakt mit einer Sozialarbeiterin habe.
»Komm, Zita,
wir statten Frau Bär einen Besuch ab. Sie wohnt an der Fabrikstrasse.«
Auf ihr Klingeln meldete sich niemand.
»Vielleicht ist sie am See«, meinte Elmer.
»Vielleicht«,
brummte Streiff ungeduldig. Er griff nach dem Handy und rief Lieselotte Bärs Sozialarbeiterin
an. »Ja, es ist wichtig«, hörte Elmer ihn sagen. Ein bisschen mehr Liebenswürdigkeit
könnte auch nicht schaden, dachte sie. Streiff legte auf.
»Komm«,
sagte er, »sie ist noch im Büro und widerwillig bereit, ihren Feierabend eine halbe
Stunde zu verschieben.«
Antonia
Heiniger war jung. Fast zu jung für eine Sozialarbeiterin, fand Streiff. Sie wirkte
müde, vielleicht auch nur missmutig, weil sie den Sommerabend lieber in einem netten
Gartenlokal verbringen wollte statt am Schreibtisch im heißen Büro. Viel weiterhelfen
konnte sie nicht. Sie traf sich ungefähr alle drei Wochen auf einen Kaffee mit Lieselotte
Bär. Es schien ihr so weit gutzugehen. Viel wusste sie eigentlich nicht von ihr.
»Sie sind
doch zuständig für die Frau«, warf Streiff ein.
»Ja, wissen
Sie, für wie viele Klienten ich zuständig bin?«, fuhr Antonia Heiniger auf. »Ich
kann nicht alle selbst ins Bett bringen.«
Streiff
nahm sich zusammen. »Hat Frau Bär in der letzten Zeit wieder davon gesprochen, dass
sie gern ein Kind hätte?«
Heiniger
schüttelte den Kopf. »Nein, hat sie nicht.«
»Worüber
reden Sie, wenn Sie sich treffen?«
»Ich frage
sie nach ihrem Alltag. Ob sie klarkommt. Wie sie ihre Zeit verbringt. Sie arbeitet
ja nicht.«
»Und wie
kommt sie klar? Wie verbringt sie ihre Zeit?«
»Sie sagt,
sie gehe gern spazieren, sitze am See, schaue den Leuten zu. Abends sieht sie fern.
Löst Kreuzworträtsel.«
»Hat sie
Familie, Freunde, Bekannte?«
»Wenige.
Es gibt einen Bruder, der im Ausland lebt, und eine Tante in Basel. Und sie hat
eine Bekannte, die sie aus der Klinik kennt. Mit der trifft sie sich ab und zu.
Aber ich glaube nicht, dass das eine nahe Freundin ist. Frau Bär ist sehr verschlossen.
Sie vertraut niemandem.«
»Ihnen auch
nicht?«
»Ich glaube,
sie mag mich ganz gern. Aber vertrauen? Nein. Es braucht jeweils viel Überredungskunst,
wenn ich einen Blick in ihre Wohnung werfen will. Das sollte ich so alle halbe Jahre
tun. Um sicherzugehen, dass die Leute nicht verwahrlosen. Aber das ist bei Frau
Bär eigentlich kein Problem. Sie hält die Wohnung sauber, und sie häuft auch nicht
Dinge an. Ein Messie ist sie nicht.«
»Wo würden
Sie nach ihr Ausschau halten, wenn sie verschwunden wäre?«, fragte Streiff.
»Sie ist
doch nicht verschwunden. Vermutlich kommt sie einfach später nach Hause.«
»Heute ist
ein Baby in den Katzenbach geworfen worden und ertrunken. Und ich will mit Frau
Bär darüber sprechen«, sagte Streiff langsam und deutlich. »Also, wo könnte die
Frau sein, falls sie nicht nach Hause kommt?«
»Keine Ahnung.
Ein Ferienhaus hat sie jedenfalls nicht. Und Geld für eine Sommerreise ebenfalls
nicht.«
Streiff
stand auf. »Denken Sie darüber nach und melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«
Er schob ihr seine Karte hin.
»Ich glaube
nicht, dass Frau Bär das Baby ins Wasser geworfen hat, sie ist nicht gewalttätig.
War es nie«, merkte Antonia Heiniger an, während sie ihre Sachen
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