Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
ging.
Valerie
blieb auf dem Balkon sitzen. Daran gewöhnt man sich, hatte Leon gesagt. Oder auch
nicht, dachte sie. Er als Onkel der Kleinen hatte sich offenbar rasch daran gewöhnt.
Wobei, er hatte ihr nichts von dem Baby erzählt. Sie hatte nicht gewusst, dass er
eine zweite Nichte bekommen hatte. Gut, sie waren nicht eng befreundet, sahen sich
manchmal wochenlang nicht. Und doch, es kam ihr seltsam vor. Vor drei Wochen erst
hatten sie zusammen gegessen, unten in seinem Garten. Ein friedlicher, gemütlicher
Abend mit Steaks vom Grill und Rotwein. Kein Wort von dem süßen kleinen Kind. Ob
er es vielleicht doch nicht so niedlich gefunden hatte, wie er vorgab?
Leon. Valeries
Gedanken wanderten Jahre zurück. Zu einem anderen Gespräch. Damals war es Frühling
gewesen, ein kühler Abend, und sie hatten in seiner Wohnküche gesessen. Zwei Tage
vorher war in ihrem Fahrradgeschäft ein Toter gefunden worden. Sie war völlig fertig
gewesen, und Leon hatte für sie gekocht. Sie war sehr dankbar gewesen, aber dann
hatte sich das Gespräch auf eine merkwürdige Art entwickelt. Leon hatte eine Theorie
entwickelt über Gut und Böse, was Valerie in ihrer damaligen Verfassung nicht im
Geringsten interessiert hatte, und er hatte – ja, er hatte den Täter einen armen
Teufel genannt, was sie empört hatte. Die Polizei könne keine Gerechtigkeit herbeizaubern,
hatte er gesagt. Valerie war damals sehr verärgert und verletzt gewesen und hatte
sich eine Weile von Leon zurückgezogen. Inzwischen waren sie längst wieder gute
Freunde, aber jetzt berührte Valerie diese Erinnerung seltsam. Er hatte damals ein
Tötungsdelikt verharmlost, einen Täter fast in Schutz genommen.
Valeries
Gedanken wanderten weiter zu Leons Schwester. Keine Sekunde glaubte sie, dass eine
Mutter problemlos damit fertig wurde, ein so verunstaltetes Kind zu haben. Ob Leon
wirklich so naiv war? Er liebte seine Schwester, fühlte sich für sie verantwortlich,
auch jetzt noch, wo sie längst erwachsen war. Bestimmt hatte er ihr beigestanden
nach der Geburt von Luzia. Wie weit würde er gehen, ihr zu helfen, ihr eine schwere
Last abzunehmen? – Ich darf das nicht denken, schalt sie sich gleich darauf. Und
ich werde Beat nichts davon erzählen. Sie schaute auf die Uhr. Bald sechs. Hoffentlich
rief er bald an, hoffentlich konnten sie sich heute noch sehen.
Zita Elmer und Beat Streiff saßen
sich in seinem Büro am Sitzungstisch gegenüber.
»Wir müssen
morgen die Familie genauer befragen«, stellte Streiff fest. »Mit wem haben sie Kontakt?
Wer könnte ihr Kind töten wollen? Attinger hat seine Mutter erwähnt, die das Baby
ablehnte.«
»Und wir
müssen alle Nachbarn abarbeiten«, ergänzte Elmer. »Vielleicht hat jemand etwas bemerkt,
eine Person wahrgenommen.«
»Wir brauchen
auch Informationen über die Familie. Wie ist sie fertig geworden mit einem Baby,
das mit einer solchen Anomalie auf die Welt kam? Und ich möchte wissen, was diese
Krankheit oder Behinderung oder was es ist, genau bedeutet. Ich werde mich vom Kinderarzt
der Familie informieren lassen. Der hat ja die Mutter gekannt, hatte sicher seine
Eindrücke von ihr.«
Zita Elmer
konnte sich nicht mehr beherrschen: »Es muss doch jemand aus dem nächsten Umfeld
der Familie der Täter sein!«, rief sie. »Welche unbeteiligte Person könnte denn
auf die Idee kommen, irgendein Baby aus einem Kinderwagen zu stehlen und zu ertränken?«
»Du bringst
mich auf eine Idee«, sagte Streiff. »Erinnerst du dich nicht mehr an den Fall –
nein, das war vor deiner Zeit. Das muss jetzt mehr als zehn Jahre her sein.«
»Was für
ein Fall denn?«
»Lieselotte
Bär.« Er griff zum Telefon und bestellte die Akte.
»Lieselotte
Bär?«
»Vor etwa
einem Dutzend Jahren verschwand im Seefeld ein Baby aus einem Kinderwagen, den die
Mutter in den Garten geschoben hatte. Man fand keine Leiche, es wurden keine Geldforderungen
gestellt. Aber nach ein paar Tagen kam ein Hinweis von einer Frau, die in der Nachbarwohnung
seit Kurzem ab und zu ein Babyweinen hörte, obwohl die Nachbarin gar nicht schwanger
gewesen war. Es war die Wohnung von Lieselotte Bär, einer psychisch angeschlagenen
Frau von etwa dreißig Jahren, die von der IV lebte. Sie konnte selbst keine Kinder
bekommen, war aber völlig fixiert auf ihren Wunsch nach einem Baby. Bei ihr fand
die Polizei das vermisste Kleinkind. Es ging ihm gut, die Bär fütterte, wickelte,
badete es. Als die Polizei in ihre Wohnung kam, drohte sie im ersten Moment,
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