Katzendaemmerung
geliebten Herodot nachzulesen. Am späten Nachmittag wollen wir dann eine erste Besichtigung der Ruinen vornehmen. Onkel Norm hat mich bereits gewarnt, nicht zu viel zu erwarten. Nun, ich werde sehen. Wie beschrieb es damals noch mein Reisender aus Halikarnassos? ›Die Tempelanlage lag auf einer Insel, die von einhundert Fuß breiten Kanälen des Nils umsäumt war. Die zehn Klafter hohe Vorhalle war mit sechs Ellen hohen Bildwerken ausgestattet. Da es sich mitten in der Stadt befand, war das Heiligtum von allen Seiten gut sichtbar. Außen um den Tempel verlief ein steinerner Wall, in den Bilder eingehauen waren; innen erblickte man einen dichten, mit hohen Bäumen bestückten Hain.‹ (Aelianus berichtet zusätzlich von einem heiligen See mit großen Welsen, ähnlich dem ‘Ischeru’ von Karnak.) ›Die Länge und Breite des heiligen Bezirks betrug etwa eine Stadionlänge‹ … Ein ägyptisches Arkadien entsteht vor meinem geistigen Auge. Überall erspähe ich die prachtvoll schimmernden Tempel von Amenophis, Thutmosis, Ramses, Osorkon und Nektanebos. Öffne ich jedoch die Augen und blicke zum Fenster hinaus, so sehe ich nur das staubige Sienna der Lehmhäuser, in das sich einige wenige Streifen Grün der Bohnen- und Kleefelder mischen. Ansonsten überwiegen aber eindeutig Brauntöne; von Ocker bis Umbra ist jede Schattierung vorhanden. Meine durch die saftig-grünen Wiesen und Wälder Englands verwöhnten Augen werden sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen.
… Der heutige Nachmittag hielt gleich zwei höchst denkwürdige Ereignisse für mich parat. Leider waren beide nicht gerade positiv.
Trotz der Warnung meines Onkels war ich angesichts des Zustandes des Ruinenfeldes bitter enttäuscht. Natürlich hatte ich keine thronenden Sphinxe oder goldene Tempel erwartet, jedoch auch kein ödes, staubiges Gelände, auf dem kein einziger Stein mehr auf dem anderen zu stehen scheint. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man selbst die noch vorhandenen Hartgesteinsblöcke für die natürlichen Bestandteile dieser Felswüste halten. Ich war erschüttert. Nein, wenn ich ehrlich zu mir bin, bin ich es noch.
Welche zuweilen recht verrückten Träume habe ich noch in den letzten Wochen und Monaten gesponnen. Ich würde eines der unglaublichsten und geheimnisvollsten Länder der Erde besuchen. Und dann war es soweit. Ich befuhr den Nil, wanderte durch Alexandria und Kairo, bestieg die Pyramiden – um anschließend was zu tun? Um einen armseligen Acker im entlegensten Ostdelta zu durchpflügen? Die Erkenntnis, dass ich hier in dieser gottverlassenen Einöde die nächsten Monate verbringen soll, trifft mich wie ein Faustschlag zwischen die Augen. Mittlerweile habe ich mich wieder etwas beruhigt, doch ich sehe nun, dass die Tätigkeit eines Archäologen kein endloses heroisches Abenteuer ist. »Zähe Ausdauer für die tagtäglich anfallenden Routinearbeiten zeichnen die besten von uns aus«, erklärte mir Onkel Norm. Sicherlich hat er recht. Vielleicht hätte ich die Berichte von Flinders Petrie doch noch genauer studieren sollen; wahrscheinlich habe ich es aber bewusst vermieden, zwischen den Zeilen zu lesen.
Die andere Sache, die mir klar im Gedächtnis blieb, bezieht sich auf das Verhalten der meist weiblichen Bevölkerung von Zagazig gegenüber Mrs. Attiya und ihrer Tochter. Als sich unsere Gruppe auf den Weg zum Ruinenfeld machte, begegneten wir mehreren Frauen, die Wäsche, Wasserkrüge oder Gemüse auf ihren Köpfen balancierten. Kaum erblickte uns eine Einheimische, drehte sie entweder in die entgegengesetzte Richtung ab, oder aber sie machte seltsame Gesten mit den Händen. Einige Frauen hielten sich einfach die Hand vor die Augen, andere formten mit Zeige- und kleinem Finger eine Art Gehörn; wieder andere schlugen deutlich erkennbar das Kreuz. Dachte ich anfangs noch, die seltsamen Zeichen würden uns allen gelten, so sah ich schnell meinen Irrtum ein. Zu deutlich wiesen die ›gehörnten‹ Finger in Mrs. Attiyas Richtung; wir Männer wurden dagegen kaum beachtet.
Was mich besonders bestürzte, war die Tatsache, dass selbst Damiyat eine ähnliche Reaktion hervorrief. Als eine ›unvorsichtige‹ Frau in blauem Gewand und Schleier dem kleinen Mädchen versehentlich zu nahe kam, lief sie schreiend davon. Sie rannte, als sei der Leibhaftige persönlich hinter ihr her.
Verwirrt wandte ich mich an Attiya. »Was ist nur los mit diesen Frauen?«, fragte ich sie. »Warum laufen sie vor Ihnen und selbst vor Damiyat
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