Katzendaemmerung
einen Teil des Geländes verschluckten, oder aber Abfallhaufen und Mauerreste zu bizarren Silhouetten umformten, bereitete es mir keine Mühe, die Löwin zu entdecken. Schließlich kannte ich ihren Lieblingsplatz.
Den Kopf mir zugewandt, kauerte das Tier in der ovalen Senke vor dem Bus. Zwischen seinen mächtigen Pranken hielt es ein großes Beutestück umklammert; um was es sich dabei handelte, konnte ich aber von meinem Beobachtungspunkt aus nicht erkennen. Der lang gestreckte schwarze Körper mochte einem Reh oder einer Antilope gehören. (In meinem Traum machte ich mir keine Gedanken darüber, dass derartige Tiere wohl kaum in Yucca Springs lebten.)
Mit morbider Faszination verfolgte ich, wie die kräftigen Kiefer der Raubkatze große Fleischstücke aus dem Kadaver rissen. Während des gierigen Fressens besudelte sich die Löwin immer mehr mit dem Blut ihres Opfers. Sie badete förmlich darin. Im fahlen Licht des Mondes nahm ihr nasses, tropfendes Maul einen fast violetten Farbton an.
Etwas zwang mich dazu, so nahe wie möglich ans Fenster zu gehen. Ich wollte unbedingt wissen, welches Tier die Löwin gerissen hatte. Aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen war es äußerst wichtig, dass ich den zerfetzten Körper genau identifizieren konnte.
Mit weit aufgerissenen Augen suchte ich die Silhouette nach besonderen Merkmalen ab. Eine verrückte Situation. Da forschte ich angestrengt nach einer Antwort, ohne die Frage überhaupt zu kennen. Oder kannte ich sie am Ende doch?
Ich spürte, wie meine Hand einen Gegenstand berührte. Er kippte. Eine Vase? Ich wich zurück, doch es war bereits zu spät. Das Fenster hatte sich plötzlich verändert. Da, wo vorher nur ein einfacher Rahmen gewesen war, befand sich nun ein breites Fensterbrett. Und es bog sich unter dem Gewicht unzähliger Katzenskulpturen. Eine von ihnen fiel soeben nach hinten durchs offene Fenster und verschwand in der Dunkelheit.
Die Figur ›fiel‹ jedoch nicht, sie schwebte förmlich nach draußen, so, als geschehe alles in extremer Zeitlupe. Ich stürzte nach vorne, um das Unglück noch abzuwenden. Und tatsächlich, im letzten Moment bekamen meine Finger die Skulptur noch zu fassen. Während ich noch erleichtert aufatmete, stürzten dicht neben meinem Kopf Dutzende andere Katzenfiguren in die Tiefe. Ich versuchte, auch diese Skulpturen zu fangen, doch diesmal fielen sie ungebremst nach unten. Es war ohnehin zwecklos. Hunderte, ja Tausende von Plastiken trudelten wie defekte Satelliten um mich herum.
Durch mein überhastetes Vorgehen hatte ich das gesamte Fensterbrett aus seiner Verankerung gerissen, und nun ging ein wahrer Katzenregen auf dem Hinterhof nieder. Mein frustrierter Schrei ging im infernalischen Lärm von zerberstendem Ton, Marmor, Holz und Bronze unter.
Die Löwin sprang sofort auf und stieß ein drohendes Knurren in die Nacht. Es klang wie das tiefe Grollen eines herannahenden Gewitters. Die Katze hob ihren Kopf und starrte direkt zu meinem Fenster hinauf. Sie wusste genau, wem sie die Störung ihres Festschmauses zu verdanken hatte. Immer noch halb über der Brüstung hängend, begegnete ich furchtvoll ihrem Blick. Aus den vor Zorn zusammengekniffenen Schlitzen flammte das Licht zweier Sonnen.
Und wieder wechselte schlagartig die Perspektive. Plötzlich sah ich mich nur wenige Meter von der Bestie entfernt stehen. Ich war nun so nahe, dass mir ihr wilder Geruch wie eine Woge aus Abfall und Exkrementen entgegenschlug. Ganz langsam öffnete sich das bluttriefende Maul der unseligen Kreatur. Mächtige, rot verschmierte Fänge kamen zum Vorschein. Immer weiter öffnete sich der Rachen, viel weiter, als es ein normaler Kiefer je hätte erlauben dürfen.
Als ich nur noch Zähne und einen tiefen, dunklen Schlund erkennen konnte, durchdrang Sachmets ohrenbetäubender Schlachtruf jede Fiber meines Körpers. Widerlich stinkender Geifer besprühte mein Gesicht wie heißer Lavaregen.
Mein letzter Augenblick schien gekommen zu sein. Ich wollte zurückweichen, meine Hände schützend vor mich heben, doch kein Muskel gehorchte mir. Zitternd erwartete ich das Ende.
Doch nichts geschah. Ich konnte es nicht begreifen, doch die Bestie drehte plötzlich vor mir ab. So, als habe sie mit einem Mal jegliches Interesse an mir verloren, trottete das Tier ruhig zu seinem Platz zurück.
Auch jetzt noch war ich wie gelähmt. Hilflos musste ich mit ansehen, wie die Löwin schließlich ihr Beutestück packte und damit im Inneren des Busses verschwand.
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