Katzenhöhle
Berühmtheit jegliche Absurdität negierte.
Beim Friedhof bogen sie links ab. Lilian kannte diesen Weg. Sie war ihn schon zwei-, dreimal mit Miriam und Tobias entlangspaziert. Es war immer warm gewesen, an einem hellen Frühlingstag oder einem goldenen Sonntag im Altweibersommer. Er führte zur Burgruine von Donaustauf, durch einen sonst schattigen Laubwald, dessen Äste jetzt aber nackt und grau wie Asche waren. Doch Lilians Eindruck, sich in einer Höhle zu befinden, hatte sich nicht verändert. Wieder fühlte sie sich geborgen, sicher, beschützt. Auch die Luft war hier drinnen anders als draußen, klar und fein. Jedes Geräusch wurde gedämpft, das modrige Laub auf dem Boden war wie ein Teppich, weich und saftig durch den zerfließenden Schnee.
»Das ist Lenas Lieblingsspazierweg«, sagte Werner Zolnay nach langem Schweigen. »Hier sind wir oft gewesen, meine beiden Mädels und ich. Ich hab immer Schichtdienst gearbeitet, so hatte ich auch mal untertags Zeit.«
Lilian fragte sich, ob seine blaublütige Frau mit diesem glanzlosen Schicksal zufrieden gewesen sei.
»Margarethe hatte sich mehr von ihrem Leben erhofft«, sagte er, als hätte er Lilians Gedanken erraten. »Aber als Flüchtlingskind, von einem Auffanglager zum nächsten gekarrt, war sie sogar mit einem einfachen Arbeiter zufrieden. Die Geburt der Zwillinge hat sie dann restlos überfordert, nicht nur vom Geld her. Wahrscheinlich wäre sie nicht mal mit einem Kind zurechtgekommen. Erst als Mira mit dem Tanzen anfing, ging es meiner Frau besser. Ihr Leben hatte wieder einen Sinn. Sie konnte Ballettkleider nähen, Mira von einer Aufführung zur nächsten kutschieren und endlich mit den anderen Müttern im Ort mithalten.«
Lilian forschte in seinem Gesicht. Doch sie sah keine Bitterkeit darin, nur Wehmut über die Grenzen, die das Leben gezogen hatte. Was sie in den warmen Augen noch sah, war ein sehr inniges Gefühl, das als Einziges diese Grenzen hatte überschreiten können.
Die Holzbrücke lag hinter ihnen. Jetzt schritten sie unter einem breiten Torbogen durch, hier war es dunkel und klamm. Dann wurde der Weg steiler, mit einzelnen Pflastersteinen im Erdreich, die als Treppenersatz dienten. Rechts von ihnen türmten sich die Burgmauern, ein Pfad zweigte nach rechts ab, führte wieder durch ein Tor hindurch und weiter nach oben. Ein eigenartiger Reiz ging von den halbverfallenen und wiederaufgebauten Resten früherer Herrscherfamilien aus, als ob hier lange gehütete Geheimnisse sorgsam verborgen lägen. Sie gingen an dieser und der nächsten Abzweigung vorbei und gelangten auf einen großen, freien Platz. Miriam und Tobias waren jedes Mal jubelnd in die gleiche Richtung bis zur Brüstung vorgelaufen, wo sie ein berauschender Ausblick erwartete. Rechts hinter den alten Mauern die Silhouette Regensburgs mit dem alles überragenden Fernsehturm, daneben die langgestreckten Gebäude im östlichen Industriegebiet und die glänzenden Container und hohen Kräne im Osthafen. Auf allen anderen Seiten die Weite des Donautals mit fruchtbaren Äckern, verstreut liegenden Ortschaften und dem breiten Strom, der majestätisch und ruhig dahinfloss, weiter nach Straubing, Passau, Wien, durch endlose Täler bis zum Schwarzen Meer. Und ganz links auf einem der Donauberge eine strahlend weiße Pracht, die alle Augen auf sich zog: das Prunkgebäude der Walhalla. Leo von Klenze hatte die Ruhmeshalle in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts unter der Schirmherrschaft des bayerischen Königs Ludwig I. erbaut. Mit den vielen Säulen und Treppen erinnerte die terrassenartige Anlage eher an einen griechischen Tempel als an eine Prunkhalle aus der postnapoleonischen Zeit.
»Hier hat Lena es nie lange ausgehalten.« Werner Zolnay stützte die Hände auf die Holzbalken und schaute in die Ferne. »Obwohl sie diese Aussicht liebte, wollte sie immer gleich zurück in den Wald. Oder sie versteckte sich irgendwo in dem alten Gemäuer dahinten. Es kam mir so vor, als hätte sie hier draußen Angst.«
»Warum denn das?«
»Vielleicht, weil alles so offen ist. Mira zog sie damit auf, denn im Gegensatz zu ihrer Schwester stand Mira gerne hier und schaute hinüber zur Walhalla. Noch lieber machte sie den ganzen langen Spaziergang dort hinauf. Aber wir gingen nicht oft zur Walhalla, denn der Weg ist ziemlich weit. Wenn wir es doch schafften, lehnte Mira sich an eine Säule oder setzte sich auf eine Treppenstufe und guckte hinunter zur Donau. Und wissen Sie, was sie dann zu
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