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Katzenhöhle

Katzenhöhle

Titel: Katzenhöhle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegunde Artmeier
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brütenden, verschlossenen Witwer zumindest in den häuslichen Arbeiten zu entlasten und das ebenso verschlossene Mädchen zu beaufsichtigen, das kaum jemanden an sich heranließ.
    Überall an den Wänden hingen Fotos von Mira. Egal, in welcher Situation sie fotografiert worden war, sie sah immer gleich aus: beschwingt, stolz, voller Eleganz. Auch im ehemaligen Kinderzimmer zierten unzählige Bilder von ihr fast alle freien Flächen. Die Schranktüren standen weit offen, um die Kleidung zu lüften. Spitzenröcke in verschiedenen Farben und Variationen lugten hervor. In einer Ecke befand sich ein zweites Bett, in dem Regal daneben stapelten sich Unmengen von Büchern. Über diesem Bett hingen nur zwei Fotos: eines der Zwillingsmädchen mit Schultüte – dem undurchdringlichen Gesichtsausdruck nach zu urteilen musste das Lena sein – und beide Geschwister in Ballettpose. Überrascht schaute sich Lilian dieses Bild genauer an. Tatsächlich, die eine in einem rosaroten Tütü mit strahlender Miene war Mira, und die andere in einem schwarzen Gymnastikanzug mit halb lachendem, halb unsicherem Gesicht zeigte Lena.
    »Hat Lena etwa auch getanzt?«
    »Ja, aber das weiß kaum jemand. Lena hat das immer geheim gehalten. Sie schämte sich, weil sie nie so perfekt war wie Mira. Mein Gehalt reichte leider nur für eine solide Ballettausbildung. Lena bekam auch Unterricht, aber nicht so intensiv wie Mira. Nach den Stunden hat Mira ihr dann alles beigebracht, was sie vorher gelernt hatte. Das war nach Miras Geschmack: sie die große, erfahrene Lehrerin.« Werner Zolnay schmunzelte. »Meine Mädels waren dauernd unten im Keller, jeden Tag haben sie geübt, stundenlang. Ich hab ihnen extra einen Kellerraum dafür hergerichtet, mit Stange und Spiegel. Ich hätte Lena den gleichen Erfolg gegönnt wie Mira. Aber sie hatte eben nicht die gleichen Möglichkeiten. Doch die gleichen Anlagen – die hat sie.«
    »Dabei erzählt mir jeder, wie verschieden die beiden waren.«
    »In gewisser Weise waren sie das auch – und auch wieder nicht. Sehen Sie, genauso war das mit den Sprachen. Lena spricht fließend Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und sogar Russisch. Aber ob Sie’s glauben oder nicht – Mira hatte das gleiche Talent, nur eben nicht die Ausbildung.«
    »Dann hat Ihr Gehalt also doch für zwei solide Ausbildungen gereicht.«
    »Lena besuchte eine staatliche Sprachenschule, die war umsonst.« Seine Finger glitten über die Buchrücken im Regal, zärtlich. »Leider kommt sie nicht mehr gerne nach Hause. Aber ich hebe alles für sie auf. Sie hat ihre Bücher wie einen Schatz gehegt, hat alles gelernt, was sie nur lernen konnte. Obwohl ihr alles nie genug war.« Ein trauriges Lächeln. »Auch da waren sich Mira und Lena ähnlich.« Sein Gesicht wurde noch wehmütiger. »Meine Frau wollte das nicht verstehen. Sie dachte, jede müsse eine Nische für sich finden. Und nur da ließ sie ihnen den nötigen Freiraum.«
    Das blaue Blut lief in strengen Bahnen. Auch über Lilian legte sich auf einmal eine unerklärliche Melancholie, was sicher nicht nur an dem dunklen Zimmer und dem Geruch nach Mottenkugeln lag.
    »Ich bin hier soweit fertig«, sagte sie schnell. »Wollen wir wieder runter gehen?«
    »Ja.« Er sah unglücklich aus. Dann hellte sich seine Miene auf. »Wenn Sie noch Zeit haben, dann zeige ich Ihnen etwas. Ich wette, danach können Sie besser verstehen, wie ähnlich sich Lena und Mira waren. Trotz ihrer Unterschiede.«
     
    Helmut war bei Margarethe Zolnay geblieben, nicht zu seinem Unmut, wie es schien. Die erste wirkliche Adelige, der Lilian seit Beginn dieses Falles über den Weg gelaufen war, verstand es, ihn mit Geschichten über Mira und solchen aus der alten Heimat zu fesseln. Als Lilian und Werner Zolnay das winzige Häuschen verließen, hörte sie, wie ihr Kollege sich mit der Frau angeregt unterhielt. So kam diese wenigstens auf andere Gedanken.
    Sie gingen an der Pagode vorbei und rechts den steilen Berg hinauf. Jedes Mal, wenn Lilian in dem Örtchen Donaustauf östlich von Regensburg an dieser fremdartigen Pagode vorbeigekommen war, hatte sie gerätselt, wer die da wohl hingebaut hatte. So auch heute. Eine Vision aus einer anderen Welt, eine Begegnung zwischen fernöstlicher Kultur und bayerischer Schlichtheit, direkt an der nicht mehr ganz so blauen Donau wie vor hundert Jahren. Lilian rätselte, ob sie je wirklich blau gewesen war, oder ob das wieder einer jener Mythen war, der durch seine bloße

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