Katzenkrieg
wir nicht vor dem Werk stehen und das Gedächtnis mit ins Spiel kommt, reduziert sich der Anteil an Wirklichkeit auf ganze zehn Prozent. Das Gedächtnis ist schwach, es idealisiert, ist nachlässig, die Erinnerungen tauschen untereinander Daten aus. Für den Liebhaber sind solche Variationen ohne Bedeutung; möglicherweise ist der Subjektivismus sogar ein wesentlicher Bestandteil der bildenden Künste. Wir aber sind Fachleute, Whitelands, und müssen gegen das Blendwerk der Gefühle ankämpfen. Unsere Funktion besteht nicht darin, sensationelle Entdeckungen zu machen, nicht einmal im Interpretieren oder Einschätzen. Unsere Funktion beschränkt sich darauf, die Leinwände, die Farbstoffe, die Rahmen, die Krakelüre, die Verkaufsurkunden zu analysieren, letzten Endes das, was dazu dient, die Wirklichkeit zu fixieren und das Chaos zu verhindern.»
Dann lehnte er sich in seinem Sessel wieder zurück, hielt die Fingerspitzen aneinander und fuhr fort: «Vor einer Weile, im Prado, habe ich Sie beobachtet. Ich war ziemlich weit entfernt, das Licht war schwach, und meine Augen sind nicht mehr, was sie einmal waren, aber trotzdem bin ich überzeugt, gesehen zu haben, wie Sie sich mit Diego de Acedo und Francisco Lezcano unterhalten haben. Ich drehe Ihnen daraus bestimmt keinen Strick. Ich habe mein Herz oft den Gemälden geöffnet, ehrlicher und ergriffener, als es Menschen und Engel von mir erwarten dürfen. Vor einigen Bildern habe ich geweint, nicht aus ästhetischer Rührung, sondern um meine Seele zu entlasten, zu beichten, wie eine Psychotherapie oder so. Da ist nichts Schlechtes dabei, solange wir uns bewusst sind, was diese Ergüsse des Augenblicks sind. Aber danach, in der Stunde der Wahrheit, haben die Emotionen unter Verschluss zu bleiben, darf man nur den Fakten vertrauen, den Feststellungen aus erster Hand, der Gegenüberstellung … Unter welchen Bedingungen haben Sie dieses Bild gesehen, Whitelands? Allein oder in Begleitung? Mehrere Stunden oder nur ein paar Minuten? Was für eine Dokumentation hatten Sie zur Hand? Und was ist mit Röntgenstrahlen? Niemand darf sich in unserer Zeit irgendwelche Theorien erlauben, ohne die Röntgenstrahlen befragt zu haben. Haben Sie das getan? Sagen Sie nichts, Whitelands, ich kenne die Antwort auf diese Fragen. Und wollen Sie mir jetzt immer noch widersprechen?»
Der Whisky war gekommen, und Anthony genehmigte sich zwei großzügige Schlucke. Animiert vom Getränk, sagte er: «Ich widerspreche Ihnen nicht, Garrigaw. Sie sind aus London gekommen, um mich unter dem Deckmantel von Akribie und Methodik dieser akademischen Lobotomie zu unterziehen. Was Ihre Fragen betrifft, will ich Ihnen etwas sagen: Ich kann sie positiv oder negativ beantworten, Sie hingegen nicht, da Sie das Bild nicht gesehen haben und ins Blaue hinaus reden. Aus Ihrem Mund spricht weder Umsicht noch Erfahrung, und schon gar nicht Kollegialität. Aus Ihrem Mund spricht nur die Angst, dass ich einen Triumph erringe, der Ihre lange Streber-, Schwätzer- und Verhindererkarriere lächerlich macht. Aus diesem Grund sind Sie hergekommen, Garrigaw, um meine Arbeit zu behindern, und für den Fall, dass das nicht geht, sich an der Entdeckung zu beteiligen und mir ein Stück dessen wegzunehmen, was mir allein gehört.»
Der alte Kurator kräuselte die Lippen, hob amüsiert die Brauen und stieß einen leisen Pfiff aus. «Ist die Luft jetzt raus, Whitelands?»
«Ja.»
«Gott sei Dank. Und jetzt beschreiben Sie mir das Bild.»
«Warum sollte ich?»
«Weil ich der einzige Mensch bin, der Sie verstehen kann, und Sie verzehren sich danach, über Ihr verdammtes Bild zu sprechen. In diesem Moment brauchen Sie mich mehr als ich Sie. Ihre Nervosität ist mit jeder Minute offenkundiger geworden. Das ist ganz natürlich. An Ihrer Stelle würde ich ebenfalls die Wände hochgehen.»
Das Phlegma des alten Kurators führte das angespannte Streitgespräch wieder in die alte Lehrer-Schüler-Beziehung zurück. «Eins dreißig hoch und achtzig breit. Hintergrund dunkles Ocker, ohne Landschaft oder sonstige Zusatzelemente. In der Mitte ein weiblicher Akt, leicht nach links geneigt. Die rechte Hand hält auf der Höhe des Schoßes ein blaues Tuch. Die Haltung erinnert ein wenig an Tizians Danae , die Velázquez auf seiner ersten Italienreise in Florenz sehen konnte. Die Züge der Frau sind klar ausgeprägt und passen zu keinem der anderen von Velázquez verwendeten Modelle. Die Palette ist identisch mit der für die Venus vor dem
Weitere Kostenlose Bücher