Katzenkrieg
Stecknadel zu Boden fallen können, aber nach kurzer Zeit hatte er sich zur Theke durchgequetscht. Ein Kellner bediente ihn rasch und freundlich, was ihn angesichts des Gedränges überraschte – es kam ihm vor, als gebe es im Lokal keinen weiteren Gast. Er bestellte eine Portion Garnelen und ein Glas Wein. Beim Warten erinnerte er sich an frühere Besuche in der Schenke, deren Wände mit Stierkämpferfotos tapeziert waren – es war das Stammlokal eines vielköpfigen, sehr streitbaren Stierkampfclubs. Manchmal kamen die Matadore selbst her, um mit ihren Fans ein Glas Wein zu trinken. Dann trat in den verbissenen Debatten eine Pause ein, denn die Toreros waren echte Idole, und niemand wäre so unhöflich gewesen, eine Meinung zu äußern, die einen von ihnen hätte beleidigen können. Trotz der Streitereien war die Stimmung freundschaftlich, und zu später Stunde endete der Abend immer mit Gesang. Anthony liebte diese Atmosphäre. Vor Jahren hatte ihn eines Abends jemand auf einen sehr berühmten Stierkämpfer aufmerksam gemacht, den legendären Ignacio Sánchez Mejías, einen schon reifen, distinguierten Mann. Anthony kannte ihn dem Namen nach und wusste, dass er nicht nur ein bewunderter Torero, sondern auch ein verdienter Intellektueller und Dichter war. Kurz nach dieser Zufallsbegegnung erfuhr er vom Tod des Toreros in der Arena. Federico García Lorca hatte ihm ein inniges Gedicht gewidmet, und Anthony, tief berührt von dem Vorfall, hatte eine englische Übersetzung des Gedichts angefertigt, grammatisch genau, aber poetisch nicht eben bewegend.
Bei dieser Erinnerung und der Vorstellung seiner eigenen Naivität musste er lachen, worauf der neben ihm Stehende zu ihm sagte: «So sehr amüsiert es Sie?»
«Wie bitte?»
«Sie sind Ausländer, nicht wahr?»
«Ja.»
«Und wie man sehen kann, amüsiert Sie, was hier vorgeht.»
«Entschuldigen Sie, aber ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich habe über eine Erinnerung gelacht, die nichts mit der Gegenwart zu tun hat.»
Noch während er sich entschuldigte, gewahrte er den Grund für das Missverständnis. Hinter ihm stritten sich lauthals zwei Gruppen. Zunächst dachte er, es sei eine der üblichen Stierkampfdiskussionen, doch diesmal war der Streitgrund ein anderer. Die kleinere der beiden Gruppen bestand aus gutaussehenden, gutgekleideten und wohlgenährten Jugendlichen, die andere aus ungebildeten Handwerkern und Arbeitern, wie aus ihrer Kleidung, der Mütze und dem getupften Tuch um den Hals zu ersehen war. Aus den anfänglichen Meinungsverschiedenheiten waren Beschimpfungen geworden. Die Arbeiter schrien: Faschisten!, worauf die anderen antworteten: Kommunisten! In der gegenseitigen Qualifizierung als Arschlöcher! stimmten sie überein. Aber nichts deutete darauf hin, dass den Worten auch Taten folgen würden. Beide schätzten die Stärke des Gegners ab, und das hielt sie davon ab, über gegenseitige Beleidigungen hinauszugehen. In einem bestimmten Augenblick machte einer der Jungen Anstalten, mit der Hand in die Tasche zu fahren. Einer seiner Kollegen hielt ihn zurück, als er seine Absicht bemerkte, sagte etwas zu ihm und drängte auf den Ausgang zu. Die anderen folgten ihm, ohne den Anwesenden den Rücken zuzudrehen und sie herausfordernd anschauend.
«Da können Sie sehen», sagte Anthonys Thekennachbar, nachdem im Lokal wieder Ruhe eingekehrt war. «Früher ist man hergekommen, um sich darüber zu streiten, wer besser war, Cagancho oder Gitanillo de Triana … Toreros, verstehen Sie?»
«Ja, natürlich, ich bin ein Stierkampffan.»
«Sie werden mir ja richtig sympathisch. Mateo, noch einen Roten und dasselbe für den Herrn da. Ja, ja, schon gut, die nächste Runde geht auf Sie, und alles ist wieder in Ordnung. Also, wie gesagt, das war früher. Heute: eher Mussolini oder eher Lenin, das ganze Dreckspack, Sie verzeihen schon, ich weiß ja nicht, wie Sie denken. Im Moment, wie Sie gesehen haben, bleibt’s beim Schlagabtausch. Größere Maulhelden als die Spanier gibt es nicht, aber damit wir handgreiflich werden, braucht es viel. Wenn’s dann aber losgeht, dann gnade Gott.»
Die Spanier haben gute Ohren für Gespräche, die sie nichts angehen, und unterbrechen sie bedenkenlos, um ihren Senf dazuzugeben, den jeder nicht nur für richtig, sondern auch für definitiv erachtet. So war nach wenigen Minuten eine lautstarke, schulmeisterliche Debatte in Gang gekommen, in der mehrere Gäste um die Aufmerksamkeit des Ausländers buhlten, um ihm ihre
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