Katzenmond
»Sie schließen einen Unfall aus?«
Otto kratzte sich die Stirn. »Bei uns funktioniert das so, junger Mann: Wir schließen gar nichts aus, bis die Rechtsmedizinerin fertig ist. Dr. Genrich, das ist die Kleine dahinten. Nicht die mit dem Pferdeschwanz, das ist Kommissarin Holzmann, sondern die mit der Brille und dem Michelin-Anzug. Sie hat uns gerufen, und sie wird ihre Gründe dafür haben. Aber wenn sie etwas hasst, dann Prognosen. Man sieht es ihr nicht an, doch sobald sie einen Toten vor sich hat, wird sie so besitzergreifend,dass man glauben könnte, er hätte nur ihr zuliebe ins Gras gebissen. Vergessen Sie das nicht, es sei denn, Sie machen sich gern Feinde.«
Ottos Tonfall ließ Liebermann vermuten, dass er im Laufe seiner Dienstzeit hin und wieder selbst knapp an einer Feindschaft mit der Medizinerin vorbeigeschrammt war. Im Übrigen war Liebermann ihr, aber das konnte der Alte nicht ahnen, bereits begegnet, als er ihr im vergangenen Mai eine Katzenleiche auf den Tisch gelegt hatte mit der Bitte, sie zu obduzieren. Er war gespannt, ob die Pathologin sich daran erinnerte.
Während Liebermann ihre routinierten Handgriffe beobachtete, verschwand Otto, um einem Journalisten, der sich durch die Absperrung gedrängt hatte, etwas zuzubellen.
Mit rotem Kopf kehrte er zurück. »Lokalgesocks! Kommt sich vor wie einer vom Stern, dabei kann er sich nicht mal einen Namen merken.«
Liebermann lächelte besorgt. Das Merken von Namen war eine seiner Schwächen. Otto zog die Nase hoch und spuckte neben sich. »Dann wollen wir mal!«
Sie kletterten über die niedrige Wegbegrenzung und näherten sich der Leiche. Als sie dort ankamen, stand die Gerichtsmedizinerin gerade auf. Ihr Kollege hob nur den Kopf.
»Das ist Hauptkommissar Liebermann, mein Nachfolger«, sagte Otto. »Dr. Genrich von der Gerichtsmedizin, Dr. Haflinger vom Bergmann-Krankenhaus.«
Dr. Genrich schob die Brille zurück, die ihr auf die Nasenspitze gerutscht war. »Wir sind noch nicht fertig.«
»Ist klar, ist klar«, sagte Otto beschwichtigend. »Haben Sie ihn schon bewegt?«
»Natürlich. Der Fotograf ist seit einer halben Stunde weg. Sie haben ihn doch abdampfen sehen, diesen verpennten Typen mit seiner Angeberkamera.«
»Schon gut. Ich wollte es nur für meinen Nachfolger wissen.«Die Medizinerin sah Liebermann flüchtig an. »Na, jetzt weiß er’s. Können wir weitermachen, oder soll ich den Patienten zum Hinsetzen veranlassen, damit er ein bisschen höflicher aussieht?«
»Könnten Sie ihn auch zum Reden veranlassen?«, fragte Liebermann.
Hauptkommissar Otto zuckte zu ihm herum. Doch noch ehe er den Mund öffnen konnte, war Dr. Genrich einen Schritt vorgetreten. Sie reichte Liebermann bis knapp zur Brust, dennoch begriff er in diesem Augenblick, was Otto gemeint hatte.
Mit einem Blick, dessen Kälte sie aus der Pathologie mitgebracht zu haben schien, fragte sie: »Hatte man im Tierheim keine Verwendung mehr für Sie?«
»Eine Zunge wie ein Rasiermesser«, sagte Hauptkommissar Otto anerkennend, als sie die Ärztin hinter sich ließen. Liebermann bot ihm eine Zigarette an.
»Danke, nein. Hab’s während der Chemo aufgegeben.« Er deutete auf seine Mütze. Liebermann wurde rot.
»Gucken Sie nicht so betroffen. Ich hab’s schließlich überstanden, und ab Montag genieße ich die Freuden der Rente. Was für ein Tierheim meinte die Genrich übrigens, in dem man Sie nicht mehr haben wollte?«
Liebermann umriss seine erste Begegnung mit der Pathologin in groben Zügen, mit der Folge, dass der Alte seine Mütze ein Stück hochschob. Ein paar graue Stoppeln wurden sichtbar. »Wenn sie für Sie eine Katze obduziert hat, muss sie Sie mögen.«
»Den Eindruck hatte ich nicht direkt.«
»Ach, den hat niemand. Was sagen Sie zur Leiche?«
Die Frage fiel wie nebenbei, eine Krume, die sich von der Scholle gelöst hatte.
»Ein Mann in mittlerem Alter. Der Kleidung nach Akademiker oder Beamter. Keine sichtbaren Verletzungen.«
»Schön, so weit zu dem, was uns jeder Abc-Schütze sagen könnte. Wie lange lag er im Wasser?«
Hastig kramte Liebermann in seinem verwahrlosten Gedächtnis nach einer Wasserleiche. Er tat es ungern, weil er wusste, dass die Erinnerung ihm Übelkeit bescheren würde, was vermutlich auch der Grund dafür war, dass sich in seinem Hirn nichts regte. In seiner Verzweiflung versuchte er es mit etwas noch Aussichtsloserem: der Erinnerung an seine Ausbildung. Gegen alle Erwartung hatte er Glück. »Etwa einen Tag. Eher
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