Katzenmond
warf, fand er die Ziffer neun von einem kurzen, stämmigen Zeiger verdeckt. Miris Unterricht hatte vor über einer Stunde begonnen.
Er rief Nico an. Ohne Erfolg. Auch ihr Handy hatte sie abgestellt, was wohl bedeutete, dass sie gerade mit einer ihrer Stillgruppen zugange war. Was Liebermann daran erinnerte, sich endlich ihren Dienstplan abzuschreiben. Um dieser Absicht sofort ein Stück näher zu kommen, notierte er Tag und aktuelle Uhrzeit auf einem Post-it, schrieb Dienst dahinter und klemmte den Zettel an die Pinnwand. Dann frühstückte er und ging auf den Dachboden, um in der Wäsche, die seit dem Wochenende dort hing, nach einem frischen T-Shirt zu suchen. Als er vollständig bekleidet zurückkehrte, klingelte das Telefon.
»Mir ist klar, dass Sie im Urlaub sind«, brummte eine Stimme nach einer Begrüßung, von der Liebermann nur den Namen Otto verstanden hatte. »Aber ich hätte Sie trotzdem gern vor Ort, wenn Sie verstehen. Kennen Sie den Segelverein ›Alter Fritz‹ an der Havel?«
»Vom Vorbeigehen«, sagte Liebermann lahm.
»Dann kennen Sie auch die Hausboote ein paar Meter flussaufwärts. Dort, in zwanzig Minuten.«
Noch etwas benommen von dem knappen Telefonat, traf Liebermann eine halbe Stunde später an der Havel ein und geriet in ein Volksfest.
Obgleich mitten in der Woche und dazu am Vormittag, drängten sich Scharen von Schaulustigen um die Absperrbänder. Etliche hielten Kaffeebecher, Würstchen oder Eiswaffeln in Händen, die ein spontan aus dem Boden gestampfter Imbissstand feilbot. Ein paar Gesichter kamen Liebermann vage bekannt vor. Mitausgeklappten Ellbogen pflügte er sich durch schwatzende Grüppchen und in die Luft gehaltene Kameras und prallte schließlich gegen einen jungen Polizisten, der seufzend hinter sich wies. »Das Band hängt nicht zum Spaß hier!«
»Ich bin auch nicht zum Spaß hier«, sagte Liebermann und klappte seine Brieftasche auf. Der Beamte zwinkerte und nahm Haltung an. »Entschuldigung, Hauptkommissar, ich hab Sie nicht erkannt.«
Liebermann lächelte. »Schon gut. Wer von denen da hinten ist Hauptkommissar Otto?«
Eilfertig drehte der junge Mann sich um. »Der.« Er zeigte auf einen älteren Mann mit Strickmütze, der am Ufer stand und vor sich hin starrte. »Aber Vorsicht, er ist heute nicht gut drauf!« Liebermann bedankte sich und schlenderte dem Hauptkommissar entgegen.
»Sie haben mich angerufen.« Vorsichtshalber hielt er Otto seinen Ausweis unter die Nase. Der Alte schob das Dokument unwirsch zur Seite. »Was soll ich damit. Ich hab auch so einen, nur ohne Kaffeefleck.«
Als er die Hand wieder herunternahm, bemerkte Liebermann Schweiß auf der Stirn des scheidenden Hauptkommissars. Er fragte sich, warum einer bei fünfzehn Grad und Sonne eine Wollmütze trug. Unauffällig zog er seinen Block aus der Tasche.
»Gibt noch nichts zu schreiben«, sagte Otto, der es bemerkt hatte.
»Verzeihung.« Folgsam steckte Liebermann den Block wieder weg.
»Zu entschuldigen gibt’s auch nichts. Nur zu gucken.« Otto trat zur Seite und ermöglichte Liebermann den Blick auf zwei waagerechte Beine in dunklen Hosen. »Schon mal eine Leiche gesehen?«
»Ja.«
»Schön.« Um die Mundwinkel des Alten zuckte es, als schlügedie sporadische Gesellschaft von Leichen eine Brücke zwischen ihnen. »Nun, da diese dort ab Montag ohnehin Ihnen gehört, fand ich es angebracht, Sie schon mal mit ihr bekannt zu machen. Und bei der Gelegenheit auch gleich Ihren zukünftigen Kollegen vorzustellen. Der Junge da hinten links ist Jean-Pierre Simon, Polizeianwärter. Für den Namen sollte man seine Eltern verklagen, ist aber vermutlich verjährt. Netter Bursche, zuverlässig, bisschen schwer von Begriff manchmal, dafür flexibel. Meint, es sitzt ihm keine Frau im Nacken.«
Liebermann richtete neugierig den Blick auf den Bezeichneten. Das mit der Freundlichkeit glaubte er sofort. Während der junge Simon seinem Gesprächspartner andächtig zuhörte, zwirbelte er eine Augenbraue.
»Wer ist der da neben ihm?«
»Ein Anwohner, der den Toten schon mal gesehen hat. Wenn ihm jetzt noch einfällt, wo, spart uns das vielleicht ein paar Tage.«
»Trägt er keine Papiere oder Ähnliches bei sich?«
»Nichts, nicht mal ein Handy. Vielleicht aus der Tasche gerutscht, während er im Wasser herumgetrieben ist. Aber ich glaube eher, dass man ihm das Zeug abgenommen hat, wenn er es überhaupt bei sich trug. Papiere verliert man nicht so einfach.«
»Das bedeutet«, sagte Liebermann behutsam,
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