Katzenmond
keins und hockte sich auf den Boden. Er war auch ohne Kissen größer als Wu. Dann wartete er. Sie hatte ihn rufen lassen, sie fing an. So waren die Regeln, und zwar, so hoffte er, auch bei Siamesen. Doch als sie das Maul öffnete, gebot er ihr Einhalt. »Bevor du beginnst, möchte ich dich fragen, ob bei euch im Haus etwas in Unordnung geraten ist.«
Wu blinzelte verdutzt. »Wie kommst du darauf?«
»Weil mit mir zwei Menschen hier ankamen. Einen davon kenne ich, und ich weiß, dass es seine Aufgabe ist, sich um dieOrdnung unter seinesgleichen zu kümmern. Man ruft ihn bei Problemen.«
»Eine Art Reviervorsteher?«
»Eine Art«, stimmte Serrano zu. »Als ich ihn das letzte Mal traf, suchte er ein verlorengegangenes Menschenweibchen.«
Wu runzelte die Stirn und ließ dabei drei eindrucksvolle Querfalten entstehen. »Hat er es gefunden?«
»Ja. Es war tot.«
Für einen Moment lastete Stille in dem Häuschen. Ein paar Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Fensteröffnungen.
»Wir sind meines Wissens vollzählig«, sagte Wu schließlich. »Menschen wie Katzen. Aber das könnte sich ändern, wenn der Schatten das nächste Mal zuschlägt.«
Noch während sie sprach, zuckten ihre Krallen aus den Ballen. Serrano beobachtete es fasziniert. Es gab also doch etwas, das ihren Thron herrschaftlicher Langeweile ins Wanken brachte. Er ließ einige Sekunden verstreichen, ehe er fragte: »Welcher Schatten?«
Stockend und widerwillig begann Wu zu erzählen. Ihre Rede begleitete ein höchst eindrucksvolles Mienenspiel. Es drückte Verständnislosigkeit aus, dann Beklemmung, hochgradige Spannung, am Ende Wut. Sie sprengte beinahe ihr mageres Gesicht.
Serrano ließ ihr Zeit, sich ein wenig abzukühlen. Dann nahm er ein Fragment ihres Berichts auf, das ihm bedeutsam schien. »Bist du sicher, dass dieser Schatten sich immer nur an Abenden zeigt, an denen Esteban und die Menschenweibchen auswärts sind?«
»Bisher jedenfalls«, sagte Wu. »Ich glaube, er will Ärger vermeiden.«
Serrano war derselben Ansicht, doch das verschwieg er ihr. Stattdessen fragte er: »Warum erzählst du mir die Geschichte? Fürchtest du, dass der Schatten euch weiterhin heimsuchen wird? Soll ich euren Schutz veranlassen?« Was nicht schwerwerden würde, bei dem Ruf, den die Perserinnen genossen. Die Siamesin dachte offenbar dasselbe. »Ein Schutz, der sich dann statt seiner über uns hermacht – herzlichen Dank! Wir sind in der Lage, uns selbst zu verteidigen, wenn er wiederkommt, und das wird er, das ist so sicher wie das fortschreitende Erblinden Estebans.«
»Esteban ist blind?«
»Wäre er’s, könnte nichts mehr fortschreiten«, erwiderte Wu. »Ich sagte fast .«
»Na schön«, erwiderte Serrano mit dem Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben. »Was willst du also von mir?«
Sie wandte den Kopf. »Nichts. Ich dachte nur, der Schatten würde dich interessieren.«
Serrano folgte ihrem Blick. In einiger Entfernung tauchte Dahlias Kopf aus dem Gras. »Ich wüsste nicht, warum.«
Wu bewegte die Ohren, und der Kopf verschwand wieder. »Ich glaube, doch. Weil er uns während Estebans Abwesenheit heimsucht. Deine Kater hingegen wurden geschlagen, als Esteban vor Ort war.«
»Aber außerhalb des Gartens.«
»So ist es«, sagte sie und erhob sich. »Euch unter der Woche draußen und uns am Wochenende drinnen. Jemand kennt sich gut aus mit den Gepflogenheiten der ansässigen Kater und Hunde. Den Rest schaffst du allein. Enttäusch mich nicht«, fügte sie hinzu, bevor sie anmutig aus dem Fenster glitt.
Serrano blieb sitzen. Eine Mücke umschwirrte seinen Kopf und störte ihn beim Nachdenken. Aber die Gedanken gingen ohnehin ihre eigenen Wege. Im Moment beschäftigten sie sich mit der scheinbar unbedeutenden Tatsache, dass Wu ihn nicht hinauskomplimentiert hatte.
Liebermann saß in einem bequemen Lehnstuhl und betrachtete Constanze van Hoefen. Inzwischen war ihm wieder eingefallen,wo er sie schon einmal gesehen hatte. Nur hatte sie im Katinka einfach wie eine attraktive junge Frau gewirkt. Erst jetzt, aus der Nähe, fielen Liebermann die feinen Linien ihres Gesichts und die durchsichtigen blauen Augen auf. Daneben wirkte Elsa Laurent beinahe ordinär. Aber dieses Schicksal teilte die Rektorin vermutlich mit allen Frauen, die das Pech hatten, in Constanze van Hoefens Sichtachse zu geraten. Um die Ungerechtigkeit auszugleichen, hatte die Natur der jungen Frau allerdings ein ebenso zartes Nervenkostüm mitgegeben. Es war durch die bloße
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