Katzenmond
Rektorat, während Liebermann die Hand auf die Türklinke legte. »Es ist offen.«
»Eine Frage der Höflichkeit«, sagte Müller.
Einen Augenblick später erklang eine Stimme aus der Gegensprechanlage. »Es ist offen.«
Sie betraten eine Halle, von der eine geschwungene Treppe in die Höhe führte. Auf dem ersten Absatz begegneten ihnen zwei junge Frauen in Freizeitkleidung. Müller glotzte sie an wie Bewohner einer Leprakolonie, während Liebermann ein gerahmtes Porträt einer historischen Dame an der Wand zu seiner Rechten betrachtete.
Als sie an die Tür der Schulleiterin klopften, fühlten sich beide aus unterschiedlichen Gründen leicht benommen.
»Herein!«
Vom Foto her hatte Liebermann die Leiterin der Aphrodite attraktiver in Erinnerung. Aber vielleicht lag es daran, dass ein violetter Kittel nicht die vorteilhafteste Garderobe darstellte. Auf dem Foto hatte Elsa Laurent auch keinen Staubwedel in der Hand gehalten, sondern Blumen. Als er sich und den Oberkommissar vorstellte, ließ sie den Arm sinken und legte den Staubwedel beiseite, um ihnen die Hand zu reichen.
»Verzeihen Sie den unstandesgemäßen Empfang«, sagte sie warm. »Ich habe Sie für den Elektriker gehalten. Er ist seit einer halben Stunde überfällig. Irgendwo scheint es hier einen Wackelkontakt zu geben, der die Deckenbeleuchtung zum Flackern bringt, das stört auf Dauer ein wenig. Bitte!« Sie wies auf vier Sessel, die sich um einen niedrigen ovalen Tisch gruppierten. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Liebermann lehnte mit einem Verweis auf ihr schmales Zeitfenster ab, während Müllers Blick gebannt an einer Fluse hing, die etwa in Brusthöhe von Frau Laurents Kittel saß. Sie nahm es gelassen.
»Es ist eine merkwürdige Sache, nicht wahr?«, sagte sie, während sie durch eine Verbindungstür in einen Nachbarraum ging, aus dem alsbald leises Getuschel drang. Eine Minute später kehrte sie zurück und ließ sich neben Müller nieder, was ihm sichtlich zu schaffen machte. »Kaum etwas ist so ausreichend auf der Welt vorhanden wie Zeit, und dennoch klagt jeder über Mangel. Nun ja, was soll’s: Die Zeit ist eine freie Größe, sie sperrt sich gegen Verwaltungshoheiten.« Sie lächelte Müller zu und zupfte den Fussel von ihrer Brust, um ihn auf einen Visitenkartenteller in der Mitte des Tisches zu legen.
»Wollen Sie damit andeuten, dass die Zeit einen Willen besitzt?«, fragte Liebermann lächelnd.
Elsa Laurent sah zur Uhr. »Man könnte zumindest einmal darüber nachdenken. Ich frage mich zum Beispiel, was sie gerade mit meinem Elektriker anstellt.«
»Warum wir hier sind, fragen Sie sich nicht?«
»Doch«, entgegnete sie und schlug die Beine übereinander. »Aber der Takt gebietet, den Besucher nicht mit Fragen zu bestürmen, sondern zu warten, bis er von selbst zur Auskunft bereit ist.«
Müller löste sich von dem Fussel in der Schale. »Lernt man das hier?«
»Unter anderem. Wenngleich die meisten meiner Schülerinnen dieses Wissen als Teil ihrer Erziehung schon mitbringen.«
In der Tür zum Nebenraum erschien eine jüngere mollige Frau mit einem Tablett.
»Ich habe mir erlaubt, uns trotz Ihrer Zeitkrise einen Tee brühen zu lassen«, sagte Elsa Laurent, als sie es auf dem Tisch abstellte und Tassen zu verteilen begann. »Irgendwie finde ich es unhöflich, Sie völlig auf dem Trockenen sitzen zu lassen. Sie brauchen ihn natürlich nicht zu trinken, auch wenn ich Ihnen nicht verhehlen will, dass Sie ein Fest für Ihre Geschmacksknospen verpassen.«
Mit noch tieferem Argwohn als eine Stunde zuvor bei der Witwe sah Müller auf die Flüssigkeit, die in dünnem hellgelbem Strahl aus der Kanne strömte. »Wie heißt der?«
»Der Schoßhund der Dame Wang. Es gibt eine japanische Legende, der zufolge die Dame Wang nach dem Tod ihres Hundes sämtliche Kräuter, an denen er gern seine Marke hinterlassen hatte, zu einem Strauß zusammenfasste und daraus einen Tee kochte, der ihr jedes Mal, wenn sie ihn trank, das Gefühl gab, seinen samtigen Kopf zu streicheln.«
Mit einem erstickten Laut schob Müller sein Glas von sich, während Liebermann zum zweiten Mal an diesem Vormittag ein fremdes Getränk kostete. Zu seiner Überraschung schmeckte der Tee blumig und irgendwie vertraut, auf jeden Fall besser als Innerer Frieden .
Die Rektorin beobachtete seinen Selbstversuch wohlgefällig.»Dieser schmetterlingshafte Nachhall rührt von den Jasminblüten her, die dem Tee erst nach dem Kochen beigefügt werden.«
»Wir
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