Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Wert legen, die im Ausland leben. Das Gewicht der Traditionen im Exil lastete schwer auf uns. Dennoch hätten wir uns vor alledem drücken, einen Wagen mieten und ihn besuchen können. Doch in jener Phase meines Lebens scheute ich vor einer Begegnung mit ihm zurück. Ich war ein junger Schriftsteller und fürchtete mich vor seiner Reaktion, obwohl ich davon überzeugt bin, dass er sich höflich geäußert hätte. Er hatte sicherlich angenommen, es sei Ramadhin, der von Natur aus die erforderliche Sensibilität und Intelligenz besitze, um Künstler zu werden. Ich glaube nicht, dass diese Eigenschaften zwingende Voraussetzungen sind, aber damals glaubte ich es ein wenig.
Es wundert mich noch immer, dass es Cassius und ich waren, die jener Welt entstammten und in der Welt der Kunst überlebt haben. Cassius, der in seiner öffentlichen Funktion dezidiert nur unter seinem streitbaren Vornamen auftrat. Ich war umgänglicher, ich war braver geworden, während Cassius sich nicht einschüchtern ließ und für die Etikette der Kunst- und Machtzirkel nur Spott und Verachtung übrig hatte. Einige Jahre nachdem er als Künstler zu Ruhm gelangt war, bat ihn seine Schule, die er gehasst hatte und wo man ihn vermutlich nicht gemocht hatte, um die Schenkung eines Gemäldes. Er telegraphierte zurück: » IHR KÖNNT MICH MAL! GROBER BRIEF FOLGT .« Er hatte noch nie zu den Zartbesaiteten gehört. Jedesmal wenn ich von etwas Unerhörtem und Aufregendem hörte, das Cassius getan hatte, dachte ich sofort an Fonseka, der es in der Zeitung lesen und seufzend über den unüberbrückbaren Abgrund zwischen Anstand und Kunst räsonieren würde.
Ich hätte ihn tatsächlich besuchen sollen, unseren alten Guru des glimmenden Hanfseils. Er hätte mir einen anderen Ramadhin enthüllt als Massi. Doch Massis Familie war zerstört, und sie und ich waren das Verbindungsglied für die Wiederherstellung oder zumindest der Gips, mit dem die Ungewissheit über die Umstände seines Todes zugekleistert werden konnte, die sie alle hilflos ihrer Trauer ausgeliefert hatte. Und unser Verlangen nährte sich von früheren Zeiten, von jenem frühen Morgen in unseren Jugendtagen, als Massi vom Grün der wehenden Blätter gefärbt worden war. Wir haben alle einen alten Knoten im Herzen, den wir gern lockern und auflösen würden.
Als Einzelkind ging ich mit Ramadhin und Massi um, als wären sie meine Geschwister. Es war die Art von Beziehung, wie man sie als Halbwüchsiger hat, im Unterschied zu den Beziehungen zu Menschen, auf die man später im Leben trifft und die größeren Einfluss darauf haben, dass man sein Leben ändert.
Das dachte ich jedenfalls.
Zusammen waren wir drei in die abstrakten und scheinbar unerforschten Zeiten der Sommer- und Winterferien gelangt. Wir hatten uns im Universum von Mill Hill herumgetrieben. Auf dem Radweg hatten wir große Rennen nachgestellt, waren den Abhang mühsam hinaufgestrampelt und dann hinuntergerast zu einem sensationellen Finish. Nachmittags verdrückten wir uns in irgendein kleines Kino in der Innenstadt. Unser Universum umschloss Battersea Power Station, die Pelican Stairs in Wapping, die zur Themse hinunterführten, die Bibliothek von Croydon, das Schwimmbad von Chelsea und Streatham Common, eine Grünanlage, die von der High Road zu fernen Bäumen hinunterreichte. (Dort hielt Ramadhin sich in der letzten Nacht seines Lebens eine Zeitlang auf.) Und Colliers Water Lane, wo Massi und ich schließlich zusammenlebten. All die Orte, die sie und Ramadhin und ich als Teenager betreten und als Erwachsene verlassen hatten. Aber was wussten wir tatsächlich? Sogar voneinander? Eine Zukunft stellten wir uns nie vor. Unser kleines Sonnensystem, worauf bewegte es sich zu? Und wie lange würden wir einander etwas bedeuten?
MANCHMAL FINDEN WIR UNSER WAHRES , ganz und gar uns gehörendes Ich in der Jugend. Dann erkennen wir etwas in uns, was anfangs winzig ist und in das wir hineinwachsen werden. Auf dem Schiff war mein Spitzname »Mynah« gewesen. Es war fast mein Name, aber mit einem Luftsprung und mit der Andeutung von etwas Besonderem, ähnlich der leichten Drehung, mit der Vögel sich zu Fuß bewegen. Zudem ist der Mynah oder Beo ein unzuverlässiger Vogel, dem man trotz seiner erstaunlichen stimmlichen Fähigkeiten nicht trauen kann. Damals war ich vermutlich der Mynah unserer Gruppe, der alles, was er aufschnappte, den beiden anderen weitererzählte. Ramadhin gab mir den Namen zufällig, und Cassius, dem
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