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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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die Ähnlichkeit zu meinem Vornamen auffiel, nannte mich von da an so.
    Niemand außer meinen zwei Freunden von der Oronsay nannte mich Mynah. Sobald ich in England zur Schule ging, wurde ich nur noch mit meinem Nachnamen angesprochen. Und wenn mich jemand anrief und »Mynah« sagte, wusste ich, dass es nur einer der beiden sein konnte.
    Ramadhins Vornamen verwendete ich fast nie, obwohl ich ihn kannte. Gibt mir dieses Wissen das Recht zu glauben, ich wüsste mehr über ihn? Habe ich das Recht, mir die Gedanken auszumalen, die er als Erwachsener gedacht hat? Nein. Doch als Jungen auf der Fahrt nach England, als wir auf das Meer hinausblickten, das so leer wirkte, stellten wir uns komplexe Spannungsbögen und Geschichten für unser Leben vor.
     
    Ramadhins Herz. Ramadhins Hund. Ramadhins Schwester. Ramadhins Freundin. Erst heute kann ich die verschiedenen Meilensteine in meinem Leben ausmachen, die uns miteinander verbanden. Den Hund zum Beispiel. Ich weiß noch, wie wir mit ihm in der engen Koje spielten, in der kurzen Zeit, die er bei uns war. Und wie er irgendwann leise zu mir gekrochen war und seine Schnauze wie eine Geige zwischen meine Schulter und meinen Hals geschmiegt hatte. Seine Angst, seine Wärme. Und dann die Zeit mit Massi, wie auch wir uns aneinandergeschmiegt hatten, vorsichtig und ängstlich als Teenager und nach Ramadhins Tod bei unserer gegenseitigen Entdeckung schneller und überschwenglicher, beinahe als wüssten wir, dass wir ohne seinen Tod nicht zusammengekommen wären.
    Und dann war da die Geschichte mit Ramadhins Freundin.
    Sie hieß Heather Cave. Und alles, was in ihr im Alter von vierzehn Jahren noch unfertig war, liebte er. Es war, als könnte er jede Entwicklungsmöglichkeit sehen, obwohl er sie auch als die geliebt haben muss, die sie damals war, so wie man einen jungen Hund lieben kann, ein einjähriges Tier, einen schönen Jungen, in dem die Sexualität noch nicht erwacht ist. Er besuchte die Wohnung der Familie Cave in der Innenstadt, um der Tochter Nachhilfe in Geometrie und Algebra zu geben. Sie saßen am Küchentisch. Bei schönem Wetter fand der Unterricht manchmal in dem eingezäunten Garten vor dem Haus statt. Und bei der letzten Unterrichtsstunde brachte er sie dazu, von anderen Dingen zu erzählen, als kleines außerplanmäßiges Geschenk. Ihn überraschte ihr schroffes Urteil über ihre Eltern, über die Lehrer, die sie langweilig fand, und über einzelne »Freunde«, die sie zu verführen versucht hatten. Ramadhin war sprachlos gewesen. Sie war jung, aber nicht ahnungslos. In vielen Dingen war sie wahrscheinlich erwachsener als er. Und was war er? Ein viel zu unschuldiger Mann von dreißig Jahren, der im Kokon seiner kleinen Einwanderergemeinschaft in London lebte. Mit der Welt um ihn herum hatte er nichts zu tun, und er wusste nichts von ihr. Er war Aushilfslehrer und Nachhilfelehrer. Er las viel über Geographie und Geschichte. Er stand in Kontakt mit Mr. Fonseka, der im Norden Englands lebte – laut seiner Schwester unterhielten sie einen hochgeistigen Briefwechsel. Und er hörte der kleinen Cave am Tisch zu und dachte an alles, was sperrig an ihr war. Und ging nach Hause.
    Warum brach er nicht den Bann der hochtrabenden Korrespondenz mit Fonseka, indem er von ihr sprach? Aber das hätte er nie über sich gebracht. Fonseka hätte es sicher verstanden, ihn von ihr abzubringen. Aber was verstand Fonseka von der Wesensart eines Teenagers mit der potentiellen Brutalität unter der glatten Oberfläche? Nein, es wäre besser gewesen, wenn Ramadhin sich Cassius anvertraut hätte. Oder mir.
    Mittwochs und freitags ging er zur Wohnung der Familie Cave. Freitags, das merkte er, war das Mädchen ungeduldig, weil es sich mit seinen Freunden treffen wollte, sobald die Nachhilfe vorbei war. Und eines Freitags traf er sie in Tränen aufgelöst an. Sie wurde gesprächig, wollte nicht, dass er ging, sondern dass er ihr weiterhalf. Sie war vierzehn und hatte nur einen Wunsch, einen Jungen mit Namen Rajiva, den Ramadhin einmal abends mit ihr zusammen gesehen hatte. Der Junge war ihm wenig vertrauenerweckend erschienen. Und nun musste Ramadhin sich die Litanei der guten Eigenschaften des Jungen anhören und alles über eine allem Anschein nach schmerzliche und offenbar unerwiderte Jugendliebschaft. Das Mädchen redete, und Ramadhin hörte zu. Der Junge hatte sie in Gegenwart seiner Freunde abgekanzelt, und sie litt unter der Zurückweisung. Sie wollte, dass Ramadhin den Jungen aufsuchte

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