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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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mich dazu, von mir selbst zu sprechen. Ich erzählte ihr von unserer Fahrt auf dem Schiff. Und als ich sie wieder etwas fragen konnte, wusste sie über meine enge Beziehung zu ihm Bescheid und entwarf ein sympathischeres Bild von ihrem Lehrer, als sie es vielleicht gegenüber jemandem getan hätte, der ihn nicht gekannt hatte.
    »Wie sah er damals aus?«
    Sie schilderte seine Größe, den zaudernden Gang und sogar das unerwartete Lächeln, das er ganz kurz offenbarte, wenn er sich verabschiedete. Wie merkwürdig, dachte ich, dass er immer nur einmal lächelte, dieser so liebevolle Mann. Aber Ramadhin schenkte einem zum Abschied immer dieses von ganzem Herzen kommende Lächeln, so dass dieses Lächeln das letzte war, was man von ihm in Erinnerung behielt.
    »War er immer so schüchtern?« fragte sie nach einer kurzen Pause.
    »Er war … vorsichtig. Er hatte ein schwaches Herz, das er schützen musste. Deshalb hat seine Mutter ihn so sehr geliebt. Sie hat nicht damit gerechnet, dass er lange leben würde.«
    »Verstehe.« Sie senkte den Blick. »Was in der Bar passiert ist … was ich davon gehört habe, nur Gerede … es hatte nichts mit Brutalität zu tun. So ist Rajiva nicht. Wir sind nicht mehr zusammen, aber so ist er nicht.«
    Das Gespräch gab mir so wenig, woran ich mich halten konnte. Ich griff nach Luftgespinsten. Der Ramadhin, den ich wirklich verstehen musste, um ihn beerdigen zu können, war nicht zu fassen. Und wie hätte diese Vierzehnjährige das Verlangen und die Pein verstehen sollen, die ihn quälten.
    Und dann sagte sie: »Ich weiß, was er wollte. Er redete immer über diese Dreiecke und über Mathefragen, wo es um einen Zug geht, der mit dreißig Meilen in der Stunde fährt, oder um die Badewanne, in die soundso viel Wasser passt, und den Mann, der reinsteigt und soundso viel wiegt. Solche Sachen haben wir geübt. Aber er wollte etwas anderes. Er wollte mich retten. Er wollte mich in sein Leben rüberbringen, als hätte ich kein eigenes Leben gehabt.«
    Wir wollen immer diejenigen retten, die in dieser Welt hilflos sind. Eine Männergewohnheit, eine Wunscherfüllung. Und doch hatte Heather Cave sogar schon damals verstanden, was Ramadhin sich vielleicht für sie gewünscht hatte. Trotzdem hatte sie sich seinen Tod nie zum Vorwurf gemacht, obwohl sie ihn in jener Nacht darum gebeten hatte, etwas für sie zu tun. Seine eigenen Bedürfnisse hatten ihn dazu gedrängt, es zu tun.
    »Er hat eine Schwester, stimmt das?«
    »Ja«, sagte ich. »Ich bin mit ihr verheiratet.«
    »Wollten Sie deshalb mit mir sprechen?«
    »Nein. Weil er mein engster Freund war, mein machang. Einer meiner zwei wichtigsten Freunde damals.«
    »Verstehe. Tut mir leid.« Dann sagte sie: »Ich erinnere mich noch ganz deutlich an sein Lächeln, wenn er rausging und ich die Tür hinter ihm zugemacht habe. Es war so ähnlich, wie wenn jemand sich am Telefon verabschiedet und die Stimme auf einmal traurig klingt. Sie wissen, wie das klingt?«
    Als wir aufstanden und gehen wollten, ging sie um den Tisch herum und umarmte mich kurz, als hätte sie gewusst, dass all dies nicht um Ramadhins willen, sondern meinetwegen stattgefunden hatte.

 
     
     
    ALS ICH EINES SOMMERABENDS in unserer Gartenwohnung an der Colliers Water Lane während einer Party in das Wohnzimmer zurückkam, sah ich, wie Massi sich am anderen Ende des Zimmers von der Wand löste, um mit jemandem zu tanzen, den wir beide gut kannten. Sie tanzten voneinander entfernt, so dass sie einander ansehen konnten, und mit ihrer rechten Hand ergriff sie den Träger ihres Sommerkleids und verschob ihn leicht – sie blickte dabei auf den Träger, genau wie er. Und sie wusste, dass er hinsah.
    Alle unsere Freunde waren gekommen. Ray Charles sang: »But on the other hand, baby« . Ich hatte das Zimmer zur Hälfte durchquert. Und ohne mehr sehen zu müssen, ohne ein Wort hören zu müssen, wusste ich, dass zwischen ihnen etwas bestand, was unserer Beziehung abhanden gekommen war.
    Was für eine kleine Geste, Massi. Aber wenn wir nach einem Beispiel für etwas suchen, was uns nicht mehr zur Verfügung steht, sehen wir es überall. Und wenige Jahre zuvor hatten wir keine Rücksicht geübt, nachdem dein Bruder gestorben war, ein Verlust, den keiner von uns beiden allein verkraften konnte.
    Als Massi und ich uns trennten, war es für ihre Eltern eigentlich am schlimmsten, während wir beide hofften, außerhalb der Rolle als Ehepaar zu einer friedlicheren Beziehung zu finden. Doch so

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