Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
unter den Sternen zu schlafen. Ich begriff, dass er in den ersten Nächten nach der Abfahrt aus Colombo wahrscheinlich dort geschlafen hatte. Cassius, Ramadhin und ich stießen bei einer unserer nächtlichen Erkundungen auf ihn, und er erzählte uns, dass er sich das angewöhnt hatte, seit er in seiner Jugend die Magellanstraße befahren hatte und das Schiff, auf dem er sich befand, von Eisbergen in allen Farben umringt gewesen war. Hastie war »Lebenslänglicher« in der Handelsmarine gewesen, nach Nord- und Südamerika gereist, zu den Philippinen und nach Fernost, und er behauptete, die Männer und Frauen, denen er begegnet war, hätten ihn verändert. »Ich erinnere mich an die Mädchen, an die Seide … An die Arbeit kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Handfeste Abenteuer waren meine Sache. Bücher waren für mich damals nur Wörter.« Im Freien und spät in der Nacht redete Mr. Hastie wie ein Wasserfall. Und das, was er uns erzählte, wenn wir ihn in manchen Nächten in seiner gelben Beleuchtung besuchten, erregte uns und ängstigte uns zugleich. Er hatte für die Dollar-Linie gearbeitet, die den Panamakanal befuhr – Pedro-Miguel-Schleusen, Miraflores-Schleusen, Gaillard-Kanal. Das, sagte er, sei das Reich romantischer Träume. Er schilderte den von Menschenhand ausgehobenen Kanal und die Städte am Eingang und am Ausgang des Kanals, vor allem Balboa, wo ihn eine einheimische Schönheit verführt hatte und er sich betrunken, sein Schiff verpasst und die Frau geheiratet hatte und fünf Tage später geflüchtet war, indem er auf dem nächstbesten Schiff, einem italienischen Frachter, anheuerte.
Mr. Hastie sprach langsam und unaufgeregt, eine Zigarette im Mundwinkel, und flüsterte leise durch den Rauch. Wir glaubten ihm jedes Wort. Wir baten ihn, uns ein Foto von seiner »Ehefrau« zu zeigen, die ihm, wie er erklärte, weiterhin unermüdlich von Hafen zu Hafen gefolgt war, und er versprach uns, »ihr Bild zu enthüllen«, was er nie tat. Wir stellten uns eine große Schönheit mit blitzenden Augen vor, die auf einem Pferd saß. Denn als Mr. Hastie in Balboa auf dem italienischen Schiff anheuerte, hatte Anabella Figueroa seinen Brief – in dem er sich zwar selbst anklagte, aber doch auf der Trennung bestand – zu spät erhalten, um das Schiff noch zu erreichen. Sie nahm zwei Pferde und ritt ohne Pause wie ein Wirbelwind zu den Pedro-Miguel-Schleusen und ging dort als Erste-Klasse-Passagierin an Bord des Schiffs, damit er ihr in seiner lächerlichen Stewarduniform das Essen servieren musste, wobei sie seine überraschte Miene und seine untertänige Haltung mit keinem Wort, mit keinem Wimpernzucken zur Kenntnis nahm – bis zu dem Abend, an dem sie die kleine Kabine betrat, die er mit zwei anderen Besatzungsmitgliedern teilte, und sich ihm an den Hals warf. In jener Nacht hatten wir turbulente Träume.
Und im gelben Licht des Hecks folgten noch viele Geschichten. Denn später, an Bord eines anderen Schiffs, nachdem sich mein Kabinengenosse erneut skeptisch über ihrer beider Beziehung geäußert hatte und gerade den vier Tage jungen Neumond betrachtete, kam sie lautlos herbei und stieß ihm zweimal ein Messer in die Rippen, wobei sie sein Herz »um Oblatendünne« verfehlte. Nur weil es so kalt war, blieb er bei Bewusstsein. Wäre sie größer und stärker und nicht eine zierliche Südamerikanerin gewesen, dann, davon war er überzeugt, hätte sie ihn über die Reling gehoben und über Bord expediert. Da lag er und schrie – vielleicht klangen seine Schreie in der nächtlichen Stille um so lauter. Zum Glück hörte ihn die Wache. Anabella Figueroa wurde festgenommen, aber nur für eine Woche eingesperrt. »Weibliche Wut«, sagte Mr. Hastie. »Es gibt ein Wort dafür im südamerikanischen Strafgesetz. Es bedeutet etwas Ähnliches wie ›unter Hypnose Auto fahren‹. Und nichts anderes ist die Liebe, oder zumindest war sie es in jenen Tagen …«
»Frauen haben einen Hang zum Wahnsinn«, versuchte er uns dreien zu erklären. »Man muss sich bei ihnen in acht nehmen. Sie können so wunderlich und scheu sein wie wilde Hirsche, wenn man mit ihnen ins Bett gehen oder mit ihnen trinken will. Aber sobald man sie verlässt, ist es, als würde man einen Bergwerkstollen hinuntergeworfen, von dessen Vorhandensein in ihrem Charakter man nichts gewusst hat … Eine Messerattacke hat nichts zu bedeuten. Gar nichts. Das hätte ich überleben können. Aber in Valparaiso war sie schon wieder da, aus dem Gefängnis
Weitere Kostenlose Bücher