Kautschuk
Gewaltmitteln nicht so schnell zu machen sein. Hier heißt’s, streng wissenschaftlich Schritt für Schritt probieren und wieder probieren. Ich habe mir schon vorgenommen, den Herren morgen im Labor über die jetzt beginnenden Arbeiten einen kleinen Vortrag zu halten und sie vor allen Extravaganzen ausdrücklich zu warnen.«
Fortuyn hatte inzwischen alles Nötige zusammengepackt. Er sah auf die Uhr. »Ah, wie unangenehm! Da haben wir uns verplaudert. Das Archiv wird schon geschlossen sein ... Vielleicht doch ...« Er griff zum Telefon und verlangte Dr. Hempel.
»Es meldet sich niemand«, sagte die Zentrale. »Scheint keiner mehr da zu sein.«
»Ärgerlich!« sagte Fortuyn. »Dann müssen wir wohl das ganze Zeug hier mit in meine Wohnung nehmen. Es empfiehlt sich ja aus gewissen Gründen nicht, es hierzulassen.« Er deutete auf den Rollschrank. »Früher war der alte Bursche für solche Fälle gut. Jetzt ist er ausgeschaltet. Die Alarmvorrichtungen liegen zwar noch an ihm – aber man muß auf der Gegenseite wohl doch irgendwie Wind davon bekommen haben. Bis jetzt haben sie sich noch nicht gerührt ... Jedenfalls, trotz aller Alarmvorrichtungen, wäre es gewagt, gerade dieses Material hierzulassen.« —
Und so saßen sie, während die Stunden verrannen, in Fortuyns Wohnung. Der Imbiß, den die Wirtschafterin neben sie gesetzt, blieb unberührt. Endlich hatten sie die einzelnen Reaktionen gruppenweise zusammengestellt. Die Auswertung der Zusammenstellungen war die weitere Arbeit. Da legte Fortuyn die Feder hin, sagte: »Jetzt aber mal Pause!«
Aufatmend strich er sich das Haar aus der Stirn, atmete lang aus. Er schob die Papiere beiseite und stellte das Tablett auf den Schreibtisch. »So, Fräulein Tilly, nun zugelangt!« Er sah nach der Uhr. Es war kurz vor acht. »Wollen Sie wirklich das Endergebnis abwarten? Zwei Stunden wird es sicher noch dauern.«
»Na, das wäre!« Tilly biß herzhaft in ein belegtes Brot. »Natürlich muß ich das noch wissen! Könnte ich doch sonst nicht schlafen!«
»Aber diese dummen Störungen durch das Telefon will ich doch vorsichtshalber unterbinden«, meinte Fortuyn. »Will mal gleich meiner Wirtschafterin Bescheid sagen, daß ich nicht zu Hause bin.« Er ging hinaus.
Währenddessen machte Tilly, an ihrem Brötchen knabbernd, ein paar Schritte durch das Zimmer. Auf einem kleinen Tisch neben dem Diwan sah sie eine Fotografie, um die ein paar frische Blumen gelegt waren. Neugierig nahm sie das Bild in die Hand.
Wer war das? Das Gesicht kam ihr so bekannt vor ... Ah, gewiß, natürlich, das war doch Frau Direktor Terlinden! Fortuyn verkehrte ja viel im Hause Terlinden. Doch wie kam das Bild hierher? Der Platz, an dem es stand ... frische Blumen darumgelegt? Ihr Herz zuckte zusammen. Das also war’s! Mit zitternder Hand, wie bei etwas Unrechtem ertappt, stellte sie das Bild wieder an seinen Platz.
Im Moment hatte sie alles begriffen. Fortuyn häufiger Gast in der Villa Terlinden – der Gatte ein lebender Leichnam. Die junge, schöne Frau lebenslustig, nach Liebe und Glück dürstend. Fortuyn in ständigem Zusammensein mit ihr ... Wie konnte es anders sein, als daß die beiden sich fanden?
Mit müden, schweren Schritten ging sie zu ihrem Platz und fuhr sich, wie aus schwerem Traum erwacht, über die Stirn. Mechanisch ergriff sie die Feder und murmelte immer wieder vor sich hin: »Tapfer sein, Tilly! Tapfer sein! Nicht klein werden!«
Mit zusammengebissenen Zähnen beugte sie sich über eine Tabelle und fing krampfhaft an zu rechnen. Die erste Kolonne stimmte. Jetzt die zweite ... die dritte ... Sie hatte richtig gerechnet. Arbeiten! Arbeit – die beste Medizin, sich vor dummen Gedanken zu schützen!
Als Fortuyn wieder eintrat, zeigte sie ihm, wie immer, ein gleichmütiges, ruhiges Gesicht.
Fortuyn sah auf das Tablett. »Aber, Fräulein Tilly, Sie haben ja kaum gegessen! Wollen schon wieder anfangen zu arbeiten? Das gibt’s nicht! Sie müssen mir Gesellschaft leisten!«
»Unmöglich, Herr Fortuyn. Ich kann beim besten Willen nicht mehr essen.« Tilly sah ihn mit einem tapferen Lächeln an. »Wollte mal eben probieren, ob die Aufrechnungen richtig waren. Es stimmt. Jetzt seh’ ich schon fast das Endergebnis voraus.«
Sie legte einen neuen Bogen vor sich hin und begann mit der Auswertung der bisher errechneten Ergebnisse. Als die Uhr die zehnte Stunde schlug, warf sie triumphierend die Feder hin. »Wie ich’s erwartet! Wir haben die Polymerisierung!«
»Und das
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