Kavaliersdelikt-Liebe ist universell
geöffnet. Er ahnte ohnehin, was darin stehen würde. Jens hatte ihn schon nicht wirklich verstehen können, als das mit Erich in die Brüche gegangen war. Er war ansonsten ein toller Kumpel, in der Schule konnte sich Hendrik immer auf ihn verlassen. Mit Hendriks schwulem Liebesleben wollte er allerdings möglichst nichts zu tun haben.
Seine anderen Freunde konnte er damit auch nicht belästigen. Liebeskummer war etwas, was die Jungs in ihrer Clique einfach nicht hatten, da stand man drüber und vor seinen Freunden wollte Hendrik auch nicht als das Weichei dastehen, als das er sich gerade fühlte.
Nachmittags hockte er deshalb auf seinem Zimmer, spielte am Computer und bewegte sich nur heraus, um auf die Toilette zu gehen oder sich etwas zu Essen zu holen.
Seine Eltern hatten eine gut laufende Gärtnerei. Es war gerade Hochsaison und sie waren daher kaum zu Hause. Sein Bruder Hannes saß normalerweise den ganzen Tag in seinem Zimmer und seine Schwester Rieke war nachmittags meistens mit ihren Freundinnen unterwegs.
Er wollte ohnehin mit niemandem wirklich reden. Wozu auch? Er wusste ja selbst, dass er ein Vollidiot war, das musste ihm niemand sagen.
Wie konnte ich nur derart dämlich sein, mich ausgerechnet in Leandro zu verlieben? Wenn ich mich doch nur nie auf dieses dumme Spiel eingelassen hätte. Warum nur hat mich Leandro fragen müssen? Warum ist er auch so lieb, nett und toll?
Die Finger schlossen sich um die Kette an seinem Hals.
Er fühlte sich erbärmlich. Er hätte das verdammte Ding besser wegschmeißen sollen, es Leandro vor die Füße werfen müssen. Das wäre ein guter Abgang gewesen. Er hatte es nicht über sich gebracht.
Stattdessen spürte er noch immer dessen Hand an seiner Brust brennen, als er das Schmuckstück dagegen gedrückt hatte. Fühlte dessen Lippen auf seinen, sog seinen Duft ein, spürte die Finger in seinen Haaren, hörte ihn seinen Namen raunen.
Verdammt.
Hendrik blinzelte und fixierte abermals die Schere auf dem Rand des Waschbeckens.
Leandro hatte ihn für ein Mädchen gehalten, weil er diese langen, dämlich gelockten Haare hatte. Immer wieder hatte er bewundernd dadurch gestrichen und jede seiner Berührungen hatte Hendrik beben lassen.
Wütend krallte Hendrik seine Finger hinein und zerrte daran. Er hasste seine Mädchenhaare, er hasste sich und das Beste wäre, sie einfach abzuschneiden, ganz kurz, ein Stoppelhaarschnitt, mit dem ihn ganz bestimmt nie wieder jemand für weiblich halten würde.
Der Vorsatz war da. Schon seit einer Stunde, seit er ins Badezimmer geschlichen war und sich die Schere parat gelegt hatte, wild entschlossen, seinen ungeliebten Haaren zu Leibe zu rücken. Tief hatte er Luft geholt, sich wütend im Spiegel angesehen. Ein schmales Gesicht mit einer zu langen Nase, zu vollen Lippen und einem zu weichen Kinn. Umrahmt von hellbraunen lockigen Haaren. Er war nicht hübsch. Weder als Mädchen, noch als Junge. Er war weder das eine noch das andere, hatte er ärgerlich gedacht und entschlossen die Schere angesetzt.
Es war ein eigenartig hartes Geräusch gewesen, mit dem die erste Strähne dem Stahl zum Opfer fiel. Die abgeschnittenen Haare hatten sich um seine Finger gewickelt, beinahe als ob sie sich festhalten wollten, sich einschmeicheln. Wie sie sich um Leandros Finger gewunden hatten.
Und nun saß er hier, mit dem Rücken zur Badewanne auf den kalten Fliesen und heulte. Er war nicht einmal Manns genug gewesen, das durchzuziehen.
„Ricky?“
Die Stimme seiner Schwester erklang direkt vor der Badezimmertür.
„Bist du noch immer da drin?“, fragte sie, Besorgnis in der Stimme.
Hendrik seufzte. Sie wäre nicht Rieke, wenn sie der Sache nicht sofort auf den Grund gehen würde und er hatte leider vergessen abzuschließen. Also blieb er ergeben sitzen, als die Tür aufging und das verunsicherte Gesicht seiner ein Jahr älteren Schwester auftauchte.
„Ricky? Alles okay mit dir?“, erkundigte sie sich besorgt und kam augenblicklich zu ihm geeilt. „Was ist los?“
Hendrik konnte nicht antworten. Der dicke Kloß in seinem Hals steckte fest, wollte sich nicht lösen, machte ihm seit Tagen schon das Atmen, das Leben schwer.
Rieke schloss die Tür hinter sich. Ihr Blick glitt durch den Raum, verharrte einen Moment an der Schere und ihre Augen weiteten sich.
„Was hattest du vor?“, fragte sie bestürzt und ihr Blick tastete ihn nach möglichen Verletzungen ab, blieb erleichtert und verwirrt auf der einzelnen Strähne am Fußboden
Weitere Kostenlose Bücher