Kavaliersdelikt-Liebe ist universell
und Eltern geoutet hatte, war Hannes der Einzige gewesen, der nicht recht damit klarkam, einen schwulen Bruder zu haben. Seither zog er seinen Bruder gerne damit auf.
Hendrik verstand seine Abscheu nicht. Vielleicht fürchtete Hannes insgeheim, was seine Freunde dazu sagen würden, wenn sie erfahren würden, dass sein kleiner Bruder schwul war. Diese Gefahr bestand jedoch im Grunde nicht, da Hannes derzeitig einzige Freunde ausschließlich virtueller Art waren und gewöhnlich nur per Mail und Computer mit ihm kommunizierten.
„Lass ihn nur, Rieke“, bremste Hendrik seine Schwester daher und straffte sich. „Lass uns über genau jene Jungs lästern gehen, die sich für ach so cool und hetero halten. Und trotzdem mit zwanzig noch immer keine Freundin haben und vermutlich auch nie eine abbekommen werden. Wer steht schon auf solche Typen?“
Sein herausfordernder Blick traf Hannes, der verärgert das Kinn vorschob, jedoch nicht antwortete, bis die beiden das Badezimmer verlassen hatten.
Hendrik wusste sehr wohl, wie empfindlich sein Bruder auf Bemerkungen zu seinem Aussehen reagierte. Hannes war keine Schönheit und neigte zu einem feisten Bauchansatz, gegen den er nicht einmal kämpfte. Da er praktisch auch nie ausging, waren seine Chancen, ein Mädchen zu treffen, eher gering. Im Grunde tat er Hendrik leid.
„Mal im Ernst: Was willst du denn schon groß machen?“, erklärte Rieke später in ihrem Zimmer. Sie und Hendrik saßen auf dem Kuschelsofa, eng aneinandergeschmiegt und nippten an ihrem Tee.
„Manchmal passt es eben. Dann funkt es zwischen beiden. Aber oft genug brennt da nur ein Strohfeuer oder eben nur einseitig. Ach, wenn ich denke, wie oft ich schon verliebt war und vor Kummer vergangen bin, weil mein Schwarm mich entweder nicht bemerkt hat, bereits vergeben war oder sich bei näherer Betrachtung als arrogantes Arschloch herausgestellt hat.“
Tief seufzte sie auf und erzählte: „Da ist zum Beispiel ein supertoller Traumtyp an meiner Schule. Blond, groß, braungebrannt und immer perfekt gestylt. Sein Vater ist stinkreich und er rennt immer in Designerklamotten rum. Er sieht echt verdammt gut aus und ich habe ihn angesabbert, wann immer er an mir vorbeiging.“ Erneut seufzte sie und kuschelte sich enger an ihren Bruder.
„Ja, ich wusste auch, dass er mit so ungefähr jedem Mädchen an der Schule schon mal was am Laufen gehabt hatte, aber natürlich dachte ich, wenn er mich kennenlernen würde, wäre alles ganz anders. Gott, war ich naiv. Der hat mit mir Sex gehabt und hat mich dann einfach abserviert.“ Sie machte eine entsprechende Geste.
„Dem ging es echt nur um seinen Spaß. Was habe ich dem nachgeheult. Und stell dir vor: Jetzt habe ich mitbekommen, dass er schon seit ein paar Wochen wahrhaftig fest mit einem anderen Jungen zusammen ist. Einem dunkelhaarigen und dunkelhäutigen Zigeunertyp mit riesigen Augen und irre langen Wimpern, hat mir meine Freundin erzählt. Der große Jo hat sich tatsächlich in einen Jungen verguckt. Kaum zu fassen. Hoffentlich ist er bei dem nicht so arschig wie sonst.“
„Immerhin ist der bi“, seufzte Hendrik. „Die meisten tollen Jungs, die ich kennenlerne, sind hetero. Ach Mann, das ist echt blöd.“ Er vergrub sein Gesicht am Hals seiner Schwester. „Ich will Donnerstag nicht mehr zu dem Acrylmalkurs. Da probt Leandro auch immer mit seiner Band und ich werde ihm todsicher über den Weg laufen.“
„Kleiner Feigling“, schimpfte Rieke liebevoll und legte ihren Arm um ihn. „Du magst den Kurs doch total und du bist wirklich gut im Malen. Mama und Vati sind irre stolz auf dich. Sie freuen sich jetzt schon auf die Ausstellung.“ Sie drückte ihn fest an sich.
„Komm schon. Du wirst diesem Leandro nicht zeigen, wie es dir wirklich geht. Nase hoch, Rücken gerade und stolz voran. Kein Kerl ist es wert, dass man um ihn weint, okay?“
Hendrik seufzte. Leandro hatte schon viel zu viel davon gesehen, wie es ihm wirklich ging. Scheiße, er hatte bestimmt vor ihm nicht schwach wirken wollen, aber als ihm Leandro nahe gekommen war, hatte er sich kaum beherrschen können, ihn nicht einfach an sich zu ziehen und zu küssen.
Nur was hätte das gebracht außer vermutlich einem schmerzhaften Hieb?
Er konnte ja Leandro nicht einfach umpolen. Der war eben auch so, wie er war: Hetero.
„Okay“, versuchte Hendrik tapfer, wenig überzeugt von der Einstellung seiner Schwester.
Leandro war es im Grunde schon wert. Ganz bestimmt.
Sie schwiegen und tranken
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