Kay Scarpetta 16: Scarpetta
hatte.
Seine Augen waren geschlossen, und er war bis zum Kinn mit einem papierartigen blauen Laken bedeckt.
Kein Anzeichen einer Verletzung, kein Kratzer, keine Beule.
Im ersten Moment hatte Shrew gedacht, dass es keinen Unfall gegeben habe.
Er hat nichts gebrochen. Was ist geschehen? Was ist wirklich passiert? Er kann nicht tot sein. Ihm fehlt doch gar nichts. Er sieht aus wie immer. Nur so blass. So blass, und ich muss zugeben, dass er krank wirkt. Aber er kann nicht tot sein.
Dr. Lester erinnerte sie an eine ausgestopfte Taube in einem Glaskasten, als sie ihr, ohne die Lippen zu bewegen, erklärte, es handle sich um einen klassischen Fußgängerunfall mit Todesfolge.
Im Stehen von hinten angefahren.
Über die Motorhaube des Taxis gestürzt.
Mit dem Hinterkopf gegen die Windschutzscheibe geprallt.
Massive Brüche der Halswirbelsäule, hatte die Ärztin mit dem starren Gesicht gesagt.
Durch die Wucht des Aufpralls seien beide untere Extremitäten abgetrennt worden, hatte das starre Gesicht hinzugefügt.
Extremitäten.
Die Beine ihres geliebten Mannes, die an diesem grausamen Aprilnachmittag in Socken, Schuhen und in einer Cordhose gesteckt hatten, die fast die gleiche Farbe hatte wie das Sofa. Die Hose hatte sie ihm von Saks mitgebracht.
Er wirkt verhältnismäßig unverletzt, weil die schwersten entstellenden Verletzungen seine unteren Extremitäten betreffen, hatte das starre Gesicht in dem kleinen Raum gesagt.
Und diese unteren Extremitäten wurden von dem papierähnlichen blauen Laken verdeckt.
Shrew hatte vor dem Verlassen der Gerichtsmedizin ihre Adresse angegeben. Später schrieb sie einen Scheck aus und erhielt - nach etwa fünf Monaten, denn die Gerichtsmedizinerin hatte auf die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung gewartet - Dr. Lesters Abschlussbericht. Der offizielle Autopsiebericht lag noch in seinem offiziellen Umschlag in der untersten Schreibtischschublade, unter einer Kiste mit den Lieblingszigarren ihres Mannes, die sie in einen Gefrierbeutel gesteckt hatte, weil sie den Geruch nicht ertragen konnte, es aber nicht über sich brachte, sie wegzuwerfen.
Sie stellte ein neues Glas Bourbon neben den Computer, setzte sich und arbeitete länger als gewöhnlich, um sich vor dem Zubettgehen zu drücken. Dabei kam sie zu dem Schluss, dass alles mehr oder weniger in Ordnung gewesen war, bis sie heute das Foto von Marilyn Monroe geöffnet hatte.
Sie stellte sich einen strafenden Gott vor, als sie an den Mann mit den dichten Koteletten, dem protzigen Schmuck, an sein Angebot, ihr einen Dackel, einen Shi - Tsu oder einen Spaniel zu schenken, und an die Heimfahrt dachte. Er versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, indem er auf eine Weise freundlich zu ihr war, die ihr zeigte, was passieren würde, falls er schlechte Laune bekommen sollte. Sie hatte ihn auf frischer Tat ertappt, was sie und er wussten. Nun wollte er sich bei ihr beliebt machen. Zu ihrer beider Vorteil.
Im Internet suchte sie einen Artikel, der erst vor drei Wochen in der Times erschienen war, und zwar in derselben Woche, in der der Chef sich so begeistert über die Hauptfiliale von Tell- Tail Hearts in der Lexington Avenue geäußert hatte. Zu dem Artikel gehörte auch ein Foto des weißhaarigen Mannes mit den dichten Koteletten und dem gleichmütigen Gesicht.
Sein Name war Jake Loudin.
Im vergangenen Oktober war er nach einer Razzia in einer seiner Zoohandlungen in der Bronx wegen Tierquälerei in acht Fällen angeklagt worden. Doch Anfang Dezember war der Freispruch erfolgt.
ANKLAGE GEGEN KÖNIG DER WELPENFABRIKEN FALLENGELASSEN
Die New Yorker Bezirksstaatsanwaltschaft hat das Verfahren wegen schwerer Tierquälerei in acht Fällen gegen einen Geschäftsmann aus Missouri eingestellt. Tierschützer haben Jake Loudin den Spitznamen »Welpen-Pol-Pot« gegeben und vergleichen ihn mit dem Anführer der Roten Khmer, die Millionen von Menschen in Kambodscha niedergemetzelt haben.
Loudin hätte im Fall einer Verurteilung mit bis zu sechzehn fahren Haft rechnen müssen, der Höchststrafe für ein Schwerverbrechen in acht Fällen. »Allerdings konnten wir nicht beweisen, dass die acht toten Tiere in der Kühlkammer der Zoohandlung noch lebten, als sie dorthin gebracht wurden«, sagte die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Taime Berger, deren vor kurzem gegründete Einsatztruppe gegen Tierquälerei im letzten Oktober eine Razzia in den Geschäftsräumen durchführte. Sie
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