Kay Scarpetta 16: Scarpetta
während Dr. Lester in Marinos Richtung zur East Twenty-seventh Street ging, immer noch schnellen Schrittes, ihr BlackBerry in der unbehandschuhten Hand.
Sie hastete durch den kalten Wind zur First Avenue, wo sie vermutlich ein Taxi anhalten würde, um anschließend mit der Fähre nach New Jersey überzusetzen, wo sie wohnte. Offenbar schickte sie jemandem eine SMS.
Die Museum Mile war stets Shrews liebster Spazierweg gewesen. Mit einer Wasserflasche und einem Granolariegel ausgerüstet, hatte sie ihre Wohnung verlassen und war in Richtung Madison Avenue gegangen, um die Schaufenster zu betrachten, während sie vor Vorfreude immer schneller wurde.
Das Guggenheim-Museum war der Höhepunkt ihrer Ausflüge, denn sie liebte Clyfford Still, John Chamberlain, Robert Rauschenberg und natürlich Picasso. Die letzte Ausstellung, die sie besucht hatte, war »Paintings on Paper« von Jackson Pollock gewesen. Das war dieses Frühjahr zwei Jahre her.
Was war nur geschehen?
Obwohl sie nicht an eine Stechuhr oder einen vollen Terminkalender gefesselt war, hatte sie mit der Zeit aufgehört, Museen, Theater, Galerien, Zeitschriftenkioske oder Buchläden zu besuchen, seit sie für den Chef arbeitete.
Sie versuchte, sich zu erinnern, wann sie sich zum letzten Mal in ein gutes Buch vertieft, ein Kreuzworträtsel geknackt, den Musikern im Park zugehört oder sich in einem Film oder einem Gedicht verloren hatte.
Inzwischen war sie wie ein in Bernstein eingeschlossenes Insekt, gefangen in den Leben fremder und langweiliger Menschen. Klatsch. Die abgedroschenen und banalen Ereignisse im Alltag von Leuten, die das Herz und die Seele von Ausschneidepuppen aus Papier hatten. Wen kümmerte es, in welchen Klamotten Michael Jackson zu seiner Gerichtsverhandlung erschien? Welche Rolle spielte es für sie und andere, dass Madonna vom Pferd gefallen war?
Anstatt Kunstwerke zu betrachten, hatte Shrew nun Ein- blick in die Kloake des Lebens und erfreute sich am Dreck ihrer Mitmenschen. Ihr kamen einige Erkenntnisse, als sie sich an die Heimfahrt in dem schwarzen Cadillac erinnerte. In der Dunkelheit hatte die Lexington Avenue gewirkt wie der Fluss Styx. Der Mann mit dem Stetson war nett zu ihr gewesen und hatte ihr beim Aussteigen sogar das Knie getätschelt. Allerdings hatte er nie seinen Namen genannt, und eine innere Stimme hatte ihr geraten, ihn besser nicht danach zu fragen.
An diesem Abend war sie dem Bösen direkt in die Arme gelaufen. Zuerst Marilyn Monroe. Dann das Computervirus. Und zu guter Letzt der Keller. Vielleicht wandte Gott ja eine Art spirituelle Schocktherapie bei ihr an, damit sie endlich erkannte, dass sie in Wahrheit ein herzloses Leben führte. Als sie sich in ihrer Zweizimmerwohnung mit Mietpreisbindung umblickte, bemerkte sie zum ersten Mal, seit ihr Mann nicht mehr hier lebte, wie es hier wirklich aussah und dass sich nichts verändert hatte.
Das Sofa mit dem Cordbezug und der passende Sessel waren schlicht und bequem. Die abgewetzte Sitzfläche mit den Knötchen ließ ihren Mann wieder lebendig werden. Sie sah ihn im Lehnsessel sitzen, die Times lesen und so lange auf einem Zigarrenstummel herumkauen, bis dieser ganz schleimig war. Den Rauchgestank, der ihr ganzes Leben durchdrang, hatte sie noch immer in der Nase, obwohl sie ein Reinigungsunternehmen hatte kommen lassen.
Aus irgendeinem Grund brachte sie den Mut nicht auf, seine Kleider auszumisten und die Dinge wegzuräumen, deren Anblick sie nicht ertragen, von denen sie sich aber auch nicht trennen konnte.
Wie oft hatte sie ihm gepredigt, nicht einfach über die Straße zu laufen, nur weil die Ampel von Rot auf Grün geschaltet hatte!
Warum sollte das absurder sein, als auf dem Bürgersteig zu verharren, wenn eine rote Hand das Weitergehen verbot, obwohl die Kreuzung gesperrt und nirgendwo ein Auto in Sicht war?
Und so war er schließlich der Verlockung des grünen Signals erlegen, an statt auf Shrew zu hören. Heute noch hatte sie einen Mann gehabt, dem sie ständig wegen seiner Zigarren und seiner Schlamperei in den Ohren lag. Und am nächsten Tag und allen, die darauf folgten, waren ihr nichts mehr als seine Gerüche, sein Krimskrams und die Erinnerung an seine letzten Worte geblieben, bevor er zur Tür hinausgegangen war.
Haben wir noch Kaffeesahne da? Dabei setzte er seinen albernen Jägerhut auf.
Sie hatte ihn vor vielen Jahrzehnten in London für ihn gekauft. Leider hatte er nie verstanden, dass er nicht zum
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