Kay Scarpetta 16: Scarpetta
auszuführen. Stattdessen zog sie den Stecker aus der Steckdose, wickelte sich in aller Seelenruhe das Kabel um die Hand und verstaute es in einer Tasche ihres Nylonkoffers. Dann packte sie das MacBook ein.
»Ich muss ins Büro«, meinte sie zu den anderen, als Berger zurückkehrte.
Diese erkundigte sich nach dem Kaffee, als ob alles in bester Ordnung gewesen wäre.
»Wir haben uns den Mitschnitt von dem Anruf bei der Zentrale noch nicht angehört«, fiel Bacardi plötzlich ein. »Es würde mich interessieren. Die anderen auch?«
»Ich stimme dafür«, sagte Marino.
»Ich bin nicht neugierig darauf«, erwiderte Lucy. »Falls es jemand für wichtig hält, kann er mir ja die Tondatei mailen. Wenn ich etwas Neues rauskriege, melde ich mich. Ich finde allein hinaus«, sagte sie zu Jaime Berger, ohne sie anzusehen.
30
Scarpetta und Benton stiegen in den Aufzug des luxuriösen Apartmenthauses, in dem sie wohnten, und fuhren in den einunddreißigsten Stock hinauf. Sobald sich die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen hatte, begannen sie, sich auszuziehen.
»Ich wünschte, du würdest nicht hinfahren«, meinte Benton.
Mit einer ungeduldigen Bewegung zerrte er sich die Krawatte vom Hals und schlüpfte aus dem Sakko. Der Mantel lag schon auf einem Stuhl.
»Du hast Abstriche gemacht und weißt, woran sie gestorben ist. Warum also?«, fügte er hinzu.
»Könnte mich heute wenigstens einmal jemand so behandeln, als hätte ich einen eigenen Verstand und wäre in der Lage, zumindest halbwegs selbständig zu denken?«, gab Scarpetta zurück.
Sie warf die Jacke ihres Hosenanzugs und die Bluse in den Wäschekorb für kontaminierte Kleidungsstücke neben der Tür, eine Sache, die so alltäglich für sie war, dass sie sich nur selten fragte, was für ein seltsamer Anblick das für jemanden sein mochte, der sie womöglich mit einem Fernrohr beobachtete. Dann fiel ihr der neue Helikopter ein, den die New Yorker Polizei angeschafft hatte. Lucy hatte da etwas erwähnt.
Er war mit einer Kamera ausgestattet, die selbst auf drei Kilometer Entfernung noch ein Gesicht darstellen konnte.
Scarpetta öffnete den Reißverschluss ihrer Hose und zog sie aus. Dann nahm sie die Fernbedienung von dem Stickley-Couchtisch aus Eiche im Wohnzimmer. Sie schloss die elektrischen Jalousien. Fast fühlte sie sich wie Oscar, der sich vor allen versteckte.
»Ich bin nicht sicher, ob du mir zustimmst«, meinte sie zu Benton, als sie beide - in Unterwäsche und die Schuhe in der Hand - dastanden. »Übrigens geht es auch um uns. Bist du glücklich? Hast du mich deshalb geheiratet? Jemanden, der sich beim Nachhausekommen umziehen muss, weil er sich an so unhygienischen Orten herumtreibt?«
Er nahm sie ihn die Arme und schmiegte seine Nase an ihr Haar. »Du bist nicht so schlimm, wie du glaubst«, sagte er. »Wie soll ich das verstehen?«
»Nein, ich war ganz deiner Ansicht. Ja, denn wenn nicht ... « Er streckte den rechten Arm hinter ihrem Kopf aus und sah auf die Uhr. »Viertel nach sechs. Verdammt. Wahrscheinlich musst du sofort wieder weg. Und damit bin ich nicht einverstanden. Es ist nicht richtig, dass du für Dr. Lester den Babysitter spielst. Ich werde für einen starken Sturm beten, der dich daran hindert, das Haus zu verlassen. Wir könnten gemeinsam unsere Schuhe unter der Dusche abspülen, wie immer, wenn wir an einem Tatort waren. Und weißt du, was wir anschließend gemacht haben?«
»Was ist denn in dich gefahren?« »Nichts.«
»Also stimmst du zu, dass ich das mit dem Fernsehen lasse«, sagte sie. »Und ich bitte dich darum, zu beten. Ich habe keine Lust, diese Frau zu bewachen. Alles, was du gesagt hast, ist richtig. Ich weiß, was Eva Peebles zugestoßen ist. Sie und ich haben es in ihrem Badezimmer erörtert. Ich brauche also nicht mit Dr. Lester zu sprechen, die sowieso nicht zuhört und viel engstirniger ist als Eva Peebles. Außerdem bin ich müde und erschöpft und lasse es mir anmerken. Ich bin wütend. Tut mir leid.«
»Aber nicht auf mich«, meinte er. »Nicht auf dich«, erwiderte sie.
Er liebkoste ihr Gesicht und ihr Haar und blickte ihr tief in die Augen, wie er es immer tat, wenn er versuchte, etwas Verloren geglaubtes wieder finden zu müssen.
»Es geht nicht um die Protokollfrage, auf wessen Seite du stehst«, fuhr er fort, »sondern um Oscar. Um die Opfer brutaler Gewalttaten. Solange du nicht sicher bist, wer der Täter ist und welche Motive er hatte, ist es
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