Kay Scarpetta 16: Scarpetta
rotes Haar und leuchtend blaue Augen und war stämmig, ohne dick zu sein. Offenbar hatte sie beschlossen, sich fein zu machen, als sie sich für eine braune Lederhose, Cowboystiefel und einen Pulli mit Schalkragen entschieden hatte, der den winzigen eintätowierten Schmetterling an ihrer linken Schulter und viel Dekollete sehen ließ, sobald sie sich vorbeugte, um etwas aus ihrem auf dem Boden stehenden Aktenkoffer zu nehmen. Sie hatte auf ihre Art eine erotische Ausstrahlung und war humorvoll. Ihr Alabama-Akzent war so dick wie Karamellpudding. Außerdem fürchtete sie sich vor nichts und niemandem. Marino konnte den Blick nicht von ihr abwenden, seit sie - beladen mit drei Kartons voller Akten zu den vor fünf Jahren in Baltimore und Greenwich begangenen Morden - hereingekommen war.
»Ich will ja auch gar nicht darauf hinaus, ob ein Kleinwüchsiger die Tat verübt haben kann«, entgegnete Scarpetta.
Im Gegensatz zu den meisten anderen war sie stets so höflich, mit dem Tippen aufzuhören und vom Computerbildschirm aufzuschauen, wenn sie mit jemandem sprach.
»Aber er hätte es nicht gekonnt«, beharrte Bacardi. »Ich möchte mich ja nicht ständig wiederholen, doch ich will sichergehen, dass mich auch alle verstanden haben. Okay?«
Sie sah sich um.
»Okay«, wiederholte sie. »Mein Opfer, Bethany, war fast eins achtzig. Um von einem eins achtundzwanzig großen Täter mit einer Garotte erdrosselt zu werden, hätte sie sich auf den Boden legen müssen.«
»Ich möchte nur betonen, dass sie mit einer Garotte erdrosselt wurde, und zwar auf der Grundlage der Fotos und der Autopsieergebnisse, die Sie mir gezeigt haben«, erwiderte Scarpetta geduldig. »Der Winkel der Würgemale an ihrem Hals, die Tatsache, dass mehrere davon vorhanden sind, und so weiter und so fort. Damit will ich mich nicht auf die Person des Täters festlegen.«
»Aber ich. Ich spreche davon, wer als Täter in Frage kommt. Bethany hat nicht mit den Beinen gestrampelt oder sich gewehrt. Wenn doch, hat sie sich dabei wie durch ein Wunder keine Verletzungen zugezogen. Ich bin sicher, dass ein Mensch von normaler Größe hinter sie getreten ist und dass die beiden standen. Wahrscheinlich hat er sie dabei von hinten vergewaltigt, weil ihn das angemacht hat. Genauso war es bei Rodrick. Der Junge stand, und der Täter war hinter ihm. In meinen Fällen hatte der Mörder den Vorteil, dass er kräftig genug gebaut war, um seine Opfer zu überwältigen. Er hat sie eingeschüchtert, so dass sie sich von ihm die Hände auf dem Rücken fesseln ließen. Offenbar haben sie sich beide nicht gesträubt.«
»Ich frage mich, wie groß Rodrick war«, sagte Benton. Sein Haar war zerzaust, und die Bartstoppeln in seinem Gesicht erinnerten Lucy an Salz.
Man sah ihm die zwei schlaflosen Nächte an.
»Eins dreiundsiebzig«, antwortete Bacardi. »Einundsechzig Kilo. Mager und nicht sehr kräftig. Kein Kämpfer.«
»Wir können also feststellen, dass alle Opfer eines gemeinsam haben«, fuhr Benton fort. »Das heißt, die Opfer, die wir kennen. Sie waren leichte Beute, behindert oder auf sonstige Weise körperlich unterlegen.«
»Sofern der Mörder nicht Oscar ist«, hielt Berger den anderen vor Augen. »Dann ändern sich die Kräfteverhältnisse. In diesem Fall spielt es nämlich keine Rolle, ob man ein dünnes Bürschen auf Oxycodon ist. Wenn man von einem eins achtundzwanzig großen Täter angegriffen wird, ist man nicht notwendigerweise im Nachteil. Ich wiederhole mich zwar nur ungern, aber welche Erklärung gibt es sonst für seine Fingerabdrücke am Tatort Eva Peebles? Und die Abdrücke eines Brook Ariel, Größe sechsunddreißig, zufälligerweise genau die Größe und das Modell, das Oscar trägt?«
»Wir dürfen auch nicht vergessen, dass er verschwunden ist«, ergänzte Marino. »Obwohl er wissen muss, dass wir ihn suchen, hat er sich lieber aus dem Staub gemacht. Er könnte sich doch genauso gut stellen. Es wäre in seinem eigenen Interesse und weniger riskant für ihn.«
»Du sprichst hier von einem Menschen, der an schwerer Paranoia leidet«, wandte Benton ein. »Nichts auf der Welt könnte ihn davon überzeugen, dass es sicherer für ihn wäre, sich zu stellen.«
»Das muss nicht unbedingt stimmen«, widersprach Berger und sah Scarpetta an.
Da diese gerade Autopsiefotos durchblätterte, bemerkte sie Bergers forschenden Blick nicht.
»Ich glaube nicht«, entgegnete Benton, als hätte er Bergers Gedanken gelesen.
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