Kay Scarpetta 16: Scarpetta
unbekannter Quelle, das alle zwei Wochen auf ihr Konto überwiesen wurde, und die unpersönlichen und undankbaren E-Mails und Anweisungen, die sie gelegentlich erhielt, hätten genauso gut vom lieben Gott stammen können, denn auch den hatte Shrew bis jetzt weder persönlich kennen gelernt noch ein Foto von ihm gesehen. So sehr Shrew sich auch nach Aufmunterung, Lob, Dank oder einem Geschenk zu Weihnachten und zum Geburtstag sehnen mochte, dem Chef und dem lieben Gott schien es einerlei zu sein, denn sie schwiegen beide und blieben unsichtbar.
Etwas an dem heutigen Besuch von Detective Marino hatte ihr die Augen geöffnet. Shrew wusste zwar, was sie dem Chef alles zu verdanken hatte, und sie war auch froh darüber. Andererseits ärgerte sie sich auch. Sie hatte ihm ihr ganzes Leben geopfert. Sie hatte keinen Hund und keine Freunde und wagte nicht, zu reisen oder ein offenes Gespräch zu führen. Nie hatte sie Besucher, außer sie kamen unangemeldet. Und nun war die einzige Frau, die sie zumindest als Bekannte bezeichnet hätte, letzte Nacht ermordet worden.
Unter welch erbärmlichen Bedingungen hatte Shrew sich inzwischen eingerichtet. Und dabei war das Leben doch so kurz. Es konnte - und zwar auf schreckliche Weise - in einem Sekundenbruchteil enden. Der Chef war ein Egoist, ein Ausbeuter, gleichgültig und bodenlos ungerecht. Ohne Shrew hätte der Chef niemals Stoff für seine Website gehabt, denn schließlich lieferte sie ihm eine Auswahl aus Tausenden von schwatzhaften E-Mails, Bildern, Beschimpfungen und gehässigen Anekdoten, die die Fans ihr schickten. Die ganze Arbeit blieb nur an ihr hängen, während der Chef die Lorbeeren dafür erntete, auch wenn die Fans keine Ahnung hatten, wer er war.
Shrew saß am Schreibtisch vor ihrem Computer. Die Vorhänge waren zugezogen, damit sie das Gebäude gegenüber nicht ansehen und nicht an das grauenhafte Verbrechen denken musste, das sich dort abgespielt hatte. Sie wollte nicht, dass der Polizist in dem Streifenwagen vor Terris Wohnhaus Detective Marino meldete, die Nachbarin, die er vorhin befragt habe, beobachte ihn nun durchs Fenster. Sie hätte sich zwar über einen zweiten Besuch gefreut, aber es war zu gefährlich. Detective Marino hatte sie bereits im Visier. Sie war sicher, dass er glaubte, sie habe letzte Nacht etwas bemerkt. Und da sie, nachdem er gegangen war, ein wenig im Internet recherchiert hatte, kannte sie auch den Grund.
Terris Tod war noch ein Geheimnis, und zwar ein sehr unschönes. Niemand konnte sagen, wie sie gestorben war. Doch der blonde Mann mit der gelben Rose, den Shrew vor nicht allzu langer Zeit gegrüßt hatte, saß im Bellevue, genau wie der Son of Sam nach seiner Verhaftung. Die Gerichtsmedizinerin, die Terri obduziert hatte, hüllte sich in Schweigen. Aber die Einzelheiten waren sicher schrecklich. Bestimmt handelte es sich um einen sehr wichtigen Fall, denn man hatte tatsächlich Dr. Scarpetta hinzugezogen. Das schlossen die Journalisten zumindest daraus, dass sie an diesem Nachmittag auf den Flughäfen Logan und LaGuardia und dann wieder vor dem Bellevue gesichtet worden war, wo sie einen Koffer mit einem lockeren Rad hinter sich herzog. Offenbar war sie unterwegs zu ihrem Ehemann, einem forensischen Psychologen, und wollte in den Gefängnistrakt für Männer, wo Terris Freund festgehalten wurde.
Gewiss würde der Chef Dr. Scarpetta zum Thema einer weiteren Kolumne machen, und das war wirklich ein Jammer. Das Internet wimmelte von Blogs, die sich mit den heute ins Netz gestellten Kolumnen beschäftigten, und die Meinungen gingen weit auseinander. Während viele Menschen es für eine Schande hielten, dass die sexuellen Übergriffe auf Dr. Scarpetta durch Detective Marino und Schwester Polly in die Öffentlichkeit gezerrt wurden, gab es auch viele, die noch mehr hören wollten.
Details! Details!
Warum zerbricht jemand einem kleinen Kind die Bleistifte? Frauen wie sie wollen es doch nicht anders. Deshalb sind sie auch so fasziniert von Verbrechen.
Das mit dem Detective wundert mich, das mit der Nonne weniger.
Seit Detective Marino fort war, hatte Shrew keine Lust gehabt, sich an die Arbeit zu setzen. Sie musste jetzt unbedingt anfangen, die Informationen und Bilder zu durchforsten, die ihr die Fans gerade geschickt hatten. Schließlich konnte etwas Wichtiges dabei sein, das sie ins Netz stellen oder an den Rechercheordner des Chefs weiterleiten sollte.
Sie öffnete und löschte Massen von banalem und
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