Kay Scarpetta 16: Scarpetta
Terris Leiche, Spuren von Oscar befanden. Der perfekte Mord also? Vielleicht, wenn da nicht eine merkwürdige Sache gewesen wäre, nämlich dass Oscar schon einen Monat vor Terris Tod darauf beharrt hatte, er werde ausspioniert, einer Gehirnwäsche unterzogen und seiner Identität beraubt.
Marino erinnerte sich an Oscars Tobsuchtsanfall am Telefon. Warum erregte jemand, der noch seine sieben Sinne beisammenhatte' auf diese Weise Aufmerksamkeit, wenn er ein Serienmörder war und schon mindestens zwei Menschen umgebracht hatte?
Marino hatte ein schlechtes Gewissen und war besorgt.
Was, wenn er Oscar ernst genommen oder ihn sogar aufgefordert hätte, in die Staatsanwaltschaft zu kommen und mit Berger zu sprechen? Weshalb hatte er nicht wenigstens versucht, ihm zu glauben? Würde er dann trotzdem in dieser kalten und windigen Nacht einen dunklen Bürgersteig entlanggehen?
Seine Ohren wurden allmählich gefühllos, Tränen traten ihm in die Augen, und er spürte das dringende Bedürfnis, seine Blase zu entleeren. Als Terris Wohnhaus in Sicht kam, stellte er fest, dass in der Wohnung Licht brannte. Die Vorhänge waren zugezogen. Vor dem Haus stand ein Streifenwagen. Marino malte sich aus, wie ein Kollege drinnen in der Wohnung saß und den Tatort sicherte, bis Berger beschloss, ihn freizugeben. Er hätte alles dafür gegeben, die Toilette benutzen zu können, doch an einem Tatort war das ausgeschlossen.
Marino ließ den Blick die Straße entlangschweifen, sah sich nach einer geeigneten Stelle um, wo er sein Wasser abschlagen konnte, und näherte sich dabei Terris Haus. Ihm fiel auf, dass die Lampen zu beiden Seiten der Eingangstür eingeschaltet waren. In Morales' Bericht hatte gestanden, es sei bei der Ankunft der Polizei gestern Abend kurz nach sechs dunkel gewesen.
Wieder musste Marino an Oscar Bane denken. Es spielte
keine Rolle, ob ihn jemand gut genug gesehen hatte, um ihn später identifizieren zu können. Er war Terris Freund, hatte einen Schlüssel und wurde erwartet. Aber warum hatte bei seinem Eintreffen die Außenbeleuchtung nicht gebrannt? Angeblich war er um fünf erschienen, und da war es bereits stockfinster gewesen.
Wie Marino annahm, waren die Lampen vermutlich eingeschaltet gewesen. Aus irgendeinem Grund hatte er beim Betreten des Hauses das Licht ausgemacht.
Einen halben Häuserblock entfernt von dem Backsteingebäude blieb Marino stehen und betrachtete den Eingang an der East Twenty-ninth. Er stellte sich vor, er wäre der Mörder, und malte sich aus, wie es wohl gewesen war, als dieser auf das Haus zuging. Was hätte er gesehen? Was empfunden? Am gestrigen Abend war es feuchtkalt und außerdem sehr windig gewesen. Böen mit einer Geschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern hatten einen Aufenthalt im Freien ziemlich unangenehm gemacht. Genau wie jetzt.
Nachmittags um halb vier hatte sich die Sonne bereits hinter den Gebäuden und Bäumen befunden, so dass die Tür im Schatten lag. Dass die Außenbeleuchtung so früh schon gebrannt hatte, war recht unwahrscheinlich, ganz gleich, ob sie von einer Zeitschaltuhr gesteuert wurde oder nicht. Am späten Nachmittag wären wohl in den meisten Wohnungen die Lichter angegangen, was dem Täter verraten hätte, wo jemand zu Hause war.
Marino hastete zum Spielplatz. Gerade erleichterte er sich vor dem dunklen Tor, als er auf dem Flachdach des Backsteingebäudes eine schemenhafte, gedrungene Gestalt bemerkte. Sie befand sich neben der undeutlich wahrzunehmenden Silhouette der Satellitenschüssel und bewegte sich. Nachdem Marino seine Hose wieder zugemacht hatte, nahm er die Pistole aus der Tasche und pirschte sich zur westlichen Seite des Hauses. Die Feuerleiter war schmal, steil und viel zu klein für Marinos Hände und Füße.
Er war sicher, dass sie aus der Verankerung und ihn mit sich in die Tiefe reißen würde. Sein Herz klopfte, und unter seiner Harley- Jacke brach ihm der Schweiß aus, als er sich, die Glock Kaliber .40 in der Hand und mit zitternden Knien, eine Sprosse nach der anderen, an den Aufstieg machte.
Früher hatte er nicht an Höhenangst gelitten. Das war erst seit seinem Abschied von Charleston so. Benton hatte ihm erklärt, das sei das Ergebnis einer Depression und der damit einhergehenden Ängste, und eine neue Therapie mit einem Antibiotikum empfohlen, das zumindest in einer neurologischen Studie bei Ratten gewirkt hatte. Nancy, Marinos Therapeutin, bezeichnete sein Problem als „unbewussten
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