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Kay Susan

Titel: Kay Susan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das Phantom
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Wache hielt.
    Die Preußen standen in Versailles, und Paris hungerte unter einem erbarmungslosen, eisengrauen Himmel. Das linke Ufer erschauerte jede Nacht unter einem Granathagel, der die Straßen in Flammen setzte. Vom Dach der Oper aus sah ich Rauchsäulen in der stillen, kalten Luft jenseits der Seine aufsteigen. Die Preußen richteten ihr Feuer absichtlich auf Kirchen und Hospitäler, und als die Geschütze die Stadt einschlossen, wurde jedes Gebäude, das mit dem roten Kreuz der Genfer Konvention beflaggt war, automatisch zur Zielscheibe. Die Irrenanstalt, das Blindenasyl, das Kinderkrankenhaus, nichts war mehr heilig. Ich konnte kaum glauben, wie tief Menschen zu sinken vermochten.
    Das Opernhaus war als Arsenal und Lager für lebenswichtige Nahrungsmittelvorräte beschlagnahmt worden. Ich lebte in der ständigen Angst, durch irgend jemandes Achtlosigkeit könne ein Feuer ausbrechen. Eine Million Liter Wein lagerten in den Gebäuden, und mehr als einmal hörte ich trunkenen Lärm widerhallen. Die preußischen Geschütze waren noch nicht nahe genug, um das rechte Ufer unter Beschuß zu nehmen, aber nur eine einzige achtlos weggeworfene Zigarette reichte aus, um die Pulverkammer in der Oper in die Luft zu sprengen. Die ganze Zeit über, während ich an meinem geheimen Haus arbeitete, war mein Herz voll schlimmster Befürchtungen. Ich ließ den Bau nie unbewacht, außer in den wenigen Stunden, die ich alle vierzehn Tage brauchte, um zu Jules’ gemietetem Haus am linken Ufer zu gehen und dort in einem verdunkelten Raum die Löhne der Männer auszuzahlen, die sonst mangels Arbeit verhungert wären. Überall in der Stadt waren die Bauleute von Regierungsstellen für die Dauer der Belagerung entlassen worden.
    Ich bezahlte die bei mir angestellten Männer weiter, ohne ihnen die paar Francs zu neiden, die sie in der Zwischenzeit vielleicht anderswo verdienen konnten. Essen wurde rasch zu einem Vorrecht der Reichen, doch keiner von denen, die bei der Oper für mich gearbeitet hatten, durfte verhungern. Als die Preise ihre Mittel überstiegen, erhöhte ich einfach ihre Bezüge. Ich sah die Männer nie an, wenn sie in den Raum kamen. Ich stand mit unter dem Umhang verschränkten Armen da, das Gesicht zur Wand gedreht, während sie in angstvollem Schweigen ihre Umschläge abholten und sich davonschlichen. Solange ich im Haus weilte, hielten sich Madame Bernard und ihre Kinder im Schlafzimmer auf, so daß ich sie nicht sah. Wenn man exorbitante Summen und sehr viel Geduld aufwandte, war es noch immer möglich, Morphium aufzutreiben; ich sorgte dafür, daß Jules für diesen einzigartigen Dienst mehr Geld bekam, als ich ihm schuldete, und machte mich dann unverzüglich davon.
    Die siebzehnte Belagerungswoche zwang Paris schließlich in die Knie. Die Metzgerstände in den großen Markthallen verkauften Katzenfleisch, mit Papierrüschen und bunten Bändern dekoriert, und der Rattenmarkt auf der Place de l’Hôtel de Ville wurde von verzweifelten Kunden belagert. Die Zootiere im Bois waren geschlachtet worden, damit die Restaurants denen, die die Mittel hatten, für diese Delikatesse zu zahlen, Elefantenfleisch servieren konnten.
    Gewiß hätte jemand Ayesha gegessen, wenn ich sie nicht zuerst entdeckt hätte.
Ich wanderte in dieser Nacht ziellos durch die Stadt und hörte gleichgültig das Wimmern der Granaten über mir; es klang wie das Heulen eines Herbststurms hoch oben in der Luft. Niemand war in der Nähe. Jeder vernünftige Mensch in diesem Viertel hatte sich in einem Keller in Sicherheit gebracht, aber mir war es einerlei, ob ich von einem preußischen Geschoß in Stücke gerissen wurde. Ein vielsagender kleiner Vorfall im Hause der Bernards hatte mir buchstäblich auch den letzten Rest meines Geschmacks am Leben genommen.
Alle Männer waren fort. Ich hatte mit Jules abgerechnet, als im Gang ein Schrei ertönte und etwas schwer die Treppe hinunterpolterte.
Ohne nachzudenken lief ich hinaus in den schmalen, schlecht beleuchteten Flur. Im gleichen Augenblick erreichte Madame Bernard die unterste Treppenstufe und hob rasch das kleine Kind auf, das zu meinen Füßen wimmerte. Sie drückte die Kleine an ihre Brust und wollte gerade die Treppe wieder hinaufsteigen.
»Madame, das Kind ist verletzt. Lassen Sie es mich ansehen.«
»Nein . . . «, stammelte sie, noch immer rückwärts die Treppe ersteigend. »Nein, Monsieur. Sie irren sich . . . , es war nichts. Nur ein kleiner Fehltritt . . . zwei oder drei Stufen . . .

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