Kay Susan
überleben. In vieler Hinsicht hätte ich ihm einen Dienst erwiesen, wenn ich ihn in dieser Nacht umgebracht hätte. Aber ich wußte, daß ich das nicht konnte.
»Kommen Sie her«, sagte ich.
Langsam, mit verkrampften Schritten kam er, den Kopf gesenkt, resigniert und widerstandslos; mir wurde beim Anblick seiner schmerzlichen Apathie die Kehle eng.
»Wenn Sie jemals zu irgend jemandem von diesem Ort sprechen, werde ich Sie töten«, fuhr ich ruhig fort. »Wenn Sie mein Geheimnis verraten, werde ich Sie aufspüren, wohin Sie auch fliehen mögen. Es gibt keinen Platz auf dieser Welt, wo Sie vor meiner Hand sicher wären. Doch wenn Sie mir schwören, daß Sie schweigen werden, dann werde ich Ihre Familie so gut versorgen, wie Sie es sich nur wünschen können.«
Unsicher hob er den Kopf.
»Ich . . . ich verstehe nicht, Monsieur«, stammelte er. »Was verlangen Sie von mir?«
»Wenn ich hier in völligem Frieden leben will, brauche ich einen Agenten in der Außenwelt. Sie kennen inzwischen meine Gewohnheiten und Bedürfnisse. Am ersten Sonntag jeden Monats werden Sie eine Stunde vor Morgengrauen eine Droschke in die Rue Scribe nehmen und dort auf mich warten. Was immer ich in meiner Einsamkeit brauche, werden Sie mir bringen. Als Entgelt für diesen Dienst werde ich Ihnen ein Gehalt von zehntausend Francs im Monat zahlen.«
Er riß den Mund unter dem struppigen Schnurrbart auf. »Zehntausend!« keuchte er.
Ich zuckte die Achseln. »Zugegeben, das ist eine horrende Summe als Entlohnung für ein paar Einkäufe. Aber Sie haben neun Kinder großzuziehen, und wenn nicht eines von ihnen den Grand Prix de Rome bekommt, werde ich mich nach dem Grund erkundigen. Das bedeutet natürlich nicht, daß Sie irgendwelche wissenschaftlichen Interessen entmutigen sollen, die sie vielleicht zeigen. Medizin beispielsweise ist eine sehr wertvolle Berufung. Und bestimmt«, fuhr ich leise fort und sah an ihm vorbei nach der schönen Orgel, die nun eine ganze Wand füllte, »bestimmt wird sich auch eines der Kinder als musikalisch erweisen.«
Er war so verblüfft, daß er keinerlei zusammenhängende Antwort geben konnte. Die Summe überzeugte ihn schließlich mehr als jede Drohung, daß er es mit einem gefährlichen Irren zu tun hatte, dessen Launen er nicht gefahrlos ignorieren konnte. Die Tatsache, daß ich keine Ahnung hatte, wie ich dieser Verpflichtung unbegrenzt nachkommen sollte, spielte keine Rolle. Ich würde einen Weg finden.
Ehe wir uns am Seeufer trennten, zögerte er einen Augenblick und sah mich mit einem merkwürdigen Ausdruck an, den ich nicht ganz durchschaute.
»Was werden Sie in dieser schrecklichen Einsamkeit tun?« fragte er plötzlich. »Wie werden Sie die öden und leeren Tage ausfüllen?«
Ich schaute in die Dunkelheit der großen Gewölbekammer, auf unerklärliche Weise verstört über die Frage.
»Ich werde meine Tage mit Musik und wissenschaftlicher Forschung ausfüllen«, murmelte ich.
»Aber Sie werden allein sein, Monsieur«, beharrte er, »ganz allein hier unten.«
»Ich bin immer allein gewesen«, sagte ich.
Ich ließ ihn mit seiner Laterne am Ufer stehen, stieg wieder in das kleine Boot und ruderte zurück.
Am 2. Januar prüfte ich gerade die acht Gegengewichte des Kronleuchters im Zuschauerraum auf ihre Sicherheit, als Garnier an meiner Seite erschien. Er sah sowohl wütend als auch zutiefst bestürzt aus, als er mir einen Brief überreichte.
»Schauen Sie sich das an!« murmelte er. »Sagen Sie mir, ob das nicht der Gipfel der Impertinenz ist.«
Der Brief stammte von de Cumont aus dem Ministerium der Schönen Künste und teilte Garnier mit, für den Eröffnungsabend seien für ihn und seine Begleitung sechs Plätze in der Loge Zwei reserviert, »gegen einen Betrag von einhundertzwanzig Francs«.
»Was für eine verdammte Unverschämtheit!« rief ich aus.
»Ich wußte, ich kann mich darauf verlassen, daß Sie so denken werden.« Offensichtlich war er etwas besänftigt durch meinen unverhüllten Zorn. »Eine unverzeihliche Beleidigung, nicht wahr? Sie wollen, daß ich wie ein Narr dastehe, versteckt auf einem so minderwertigen Platz. Sie wollen mich öffentlich demütigen. Nun, sie können zum Teufel gehen und ihr miserables Angebot mitnehmen. Ich denke nicht im Traum daran, zur Eröffnung zu gehen. Ich werde zu Hause bleiben und ein Buch lesen.«
»Ach, Charles, seien Sie kein Dummkopf«, seufzte ich. »Sehen Sie denn nicht, daß diese Leute genau das erreichen wollen?«
Ein kurzes Schweigen entstand.
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