Kay Susan
Erst hinterher wurde mir klar, daß ich ihn beim Vornamen genannt hatte. Er wirkte verblüfft, sogar ein wenig verwirrt.
»Sie müssen zugeben, daß das ein genau berechneter politischer Angriff ist«, sagte er.
»Natürlich. Aber Sie müssen ihn übertrumpfen. Beschämen Sie sie alle, indem Sie hingehen, und Ihre eigene Leistung wird Sie rächen, das verspreche ich Ihnen. Das ist Ihr Augenblick, der Höhepunkt nach fünfzehnjähriger Sklavenarbeit für einen Traum. Niemand kann Ihnen das jetzt nehmen, nur Sie allein. Selbst wenn man Sie in den Keller setzen würde, sind Sie trotzdem der erste Architekt Frankreichs. Sie müssen hingehen. Wenn Sie es nicht tun, werden Sie es für den Rest Ihres Lebens bereuen. Und Reue ist ein sehr vergiftendes Gefühl, sie verdreht und verzerrt jeden Aspekt im Leben eines Mannes, bis nichts übrig ist als Bitterkeit und Verzweiflung. Lassen Sie das nicht zu.«
Er betrachtete die Gegengewichte des Kronleuchters.
»Manchmal beschämt mich Ihre Anteilnahme«, sagte er ruhig. »Natürlich werde ich hingehen. Werden auch Sie dasein, Erik?«
»Sicher. Sie werden mich nicht sehen, aber ich werde dasein und zusehen, wenn Sie Ihren großen Triumph erleben.«
»Unseren Triumph«, korrigierte er mich entschieden, »unseren Triumph, Erik.«
Und zu meinem großen Erstaunen bestand er darauf, mir die Hand zu schütteln.
Es war ein denkwürdiger Abend, der 5. Januar 1875. Von meinem verborgenen Aussichtspunkt hoch über der großen Treppe sah ich die Menschen eintreffen. Eine Horde von aufgeputzten, posierenden Mitgliedern der Gesellschaft säumte die freitragenden Marmortreppen. Einige von ihnen waren um eintausend Francs ärmer geworden, denn so viel kostete eine Eintrittskarte, die auf den freien Markt gelangt war. Ich, der ich nichts bezahlt hatte für das Privileg, Könige und Königinnen unter meinen verächtlichen Blicken vorübergehen zu sehen, amüsierte mich über die Verneigungen und Kratzfüße, die ich dort unten sah. Wie viele Monarchen und Kaiser es auch absetzen mag, Frankreich hat noch immer eine heimliche Bewunderung für blaues Blut. König, Kaiser, Präsident – es spielt keine Rolle, wie man sie nennt, die würdelose Speichelleckerei bleibt trotz Kommunen und Revolution bestehen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – das sind nur Illusionen der getäuschten Armen.
Wir hörten Meyerbeer an diesem Abend, Meyerbeer, Rossini und Delibes. Ich sah, wie das Publikum mit seinen Operngläsern zur Loge Eins spähte und vergeblich nach Garnier Ausschau hielt. Am Ende der Vorstellung erblickte man ihn, wie er die große Treppe hinunterging, und sofort kam es zu einem improvisierten Ausbruch von Beifall und Hochrufen.
»Bravo, Garnier! Bravo, bravo . . . «
Er schaute zur Decke hinauf, als suche er etwas, und dann, überwältigt von der begeisterten Ovation, senkte er den Kopf und eilte hinaus zu seiner Kutsche, den Arm seiner Frau umklammernd. Ich war zu weit entfernt, um es genau zu sehen, aber ich weiß, daß er weinte. Anerkennung ist süß, und niemand verdiente sie mehr als er, der Architekt – ein nobler Mann. Ich freute mich sehr, daß das Publikum sich auf so spontane und überschäumende Art entschlossen hatte, ihn zu rächen.
Schließlich war der Abend zu Ende, und all die ausgestopften Schneiderpuppen und ihre gezierten, aufgedonnerten Frauen gingen nach Hause. Ich blieb allein in der schweigenden Pracht der großen, hufeisenförmigen Doppeltreppe, erleuchtet von einem riesigen Kronleuchter auf jeder Seite. Jetzt war ich frei, unbehindert von der vulgären Menge durch mein Reich zu wandern.
Ich schweifte die ganze Nacht umher, besichtigte jeden Teil meines Reichs und benutzte meinen Dietrich, um zweitausendfünfhundert Türen zu öffnen und zu schließen. Doch als ich die riesige Haupthalle mit ihren zehn Kristallüstern durchquerte, wandte ich meine Augen instinktiv von den Spiegeln ab. Diese Instrumente des Leidens gab es in reicher Fülle in den oberen Bereichen meines Palastes, und ein einziger achtloser Seitenblick genügte, damit mich ein stechender Schmerz durchbohrte. Doch jede Schönheit muß ihre Unvollkommenheit haben, jedes Glück hat seinen Teil Kummer. Die Spiegel erinnerten mich daran, warum ich hier war, warum ich es niemals würde ertragen können, diesen Ort zu verlassen und etwas Neues zu bauen, wie Garnier es tun würde.
Mein Schaffensdrang war ausgebrannt in diesen fünfzehn Jahren unablässiger Mühen, und an seine Stelle war das Bedürfnis
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