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Kay Susan

Titel: Kay Susan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das Phantom
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gut sein würde?«
    Hinter dem Spiegel hatte mein Blut zu pochen begonnen; intensive Erregung schoß durch meine Adern. Sie wollte einen Engel der Musik, einen Engel, der dafür sorgen würde, daß sie endlich an sich selbst glaubte.
    Für die Khanum war ich der Todesengel gewesen. Es gab keinen Grund auf der Welt, warum ich nicht für Christine der Engel der Musik sein sollte. Ich konnte nicht hoffen, jemals ein Mann für sie zu sein, der an ihrer Seite erwachte und die Hand nach ihr ausstreckte. Aber ich konnte ihr Engel sein.
    Meine Stimme war meine einzige Schönheit, meine einzige Macht. Meine Stimme würde einen magischen Weg in ihr Leben öffnen. Ich konnte ihren Körper nicht stehlen, aber ich konnte ihre Stimme stehlen und sie untrennbar mit meiner verschmelzen. Ich konnte sie formen und mir für immer zu eigen machen, einen kleinen Teil von ihr, den kein anderer Mann je besitzen sollte. Ich brauchte nichts weiter zu tun, als das Schweigen zu brechen, das wie eine Mauer zwischen uns stand.
    Zuerst leise, unendlich leise, begann ich ein altes, heidnisches Zigeunerlied zu singen. Die ausgehöhlten Ziegel trugen die einschmeichelnde Melodie unverzüglich zu ihr, gestatteten meiner Stimme, sie sanft einzuhüllen wie ein giftiger Nebel, unerbittlich in ihre Seele einsickern.
    Ich beobachtete ihr dämmerndes Bewußtwerden. Wie eine Schlange, die instinktiv auf den Beschwörer reagiert, stand sie langsam auf und hob die Hand zu meiner unsichtbaren Erscheinung. In ihren Augen sah ich zitternde Freude und verwirrtes Erkennen. Es war, als habe sie ihr ganzes Leben lang auf diesen Augenblick der Offenbarung gewartet.
    Sie kniete mit einer Demut und Ehrfurcht vor dem großen Spiegel nieder, die mich für einen Moment zum Schweigen brachten.
Nun wußte ich, daß es kein Zurück mehr gab.
Wohin immer dieser Pfad auch führen mochte, wir beide waren unwiderruflich verpflichtet, ihn bis ans Ende zu gehen.

KONTRAPUNKT ERIK UND CHRISTINE
1881
1. Kapitel Aus dem Journal von Christine Daae, 1881 ∗
    Dies ist kein Tagebuch – nicht im üblichen Sinne des Wortes. Ich habe nicht die Absicht, mich jeden Tag gewissenhaft hinzusetzen und in ermüdenden Details aufzuzeichnen, was ich zum Frühstück gegessen habe, welches Kleid ich bei meiner Näherin bestellt habe oder wer auf der Probe was zu wem gesagt hat. Sicher ist es der Gipfel der Eitelkeit, wenn man annimmt, irgend jemand wolle in hundert Jahren etwas über unser unwichtiges kleines Leben lesen. Ich möchte nicht, daß jemals jemand dieses Dokument liest, denn falls das geschieht, wird man es sicherlich irgendwo einschließen, wo es keinen Schaden anrichten kann, und die Leute werden herumlaufen, den Kopf schütteln und sagen: »Arme Christine, so eine Schande, aber ich hatte natürlich immer den Verdacht, daß sie nicht ganz richtig im Kopf war. Sie stand nie mit beiden Beinen auf dem Boden, wissen Sie, nicht einmal als junges Mädchen.«
    Dieses Tagebuch ist einfach ein Versuch, mir selbst zu beweisen, daß ich noch immer bei Verstand bin, daß das, was mir zugestoßen ist, real ist und nicht das Produkt einer überreizten Vorstellungskraft. Die Ereignisse der letzten drei Monate waren so seltsam, so bizarr, so wunderbar, daß ich nicht darüber zu sprechen wage, außer hier auf dem Papier.
Ich habe den Engel der Musik gehört.
     
Oh, Gott, irgendwie hoffte ich, es würde, mit meiner ordentlichen, klaren Schrift säuberlich aufgeschrieben, besser
     

∗ Zur deutlicheren Unterscheidung sind die Passagen
aus Christines Tagebuch jeweils eingerückt.
     
aussehen; aber das tut es nicht. Es sieht genauso aus, wie es ist – verrückt.
    Ich bin nicht verrückt. Ich leide nicht an Halluzinationen, und ich träume auch nicht. Ich höre seine Stimme in meinem Kopf so normal, wie ich alles andere höre, aber die Stimme gehört nicht zu dieser Welt. Sie ist viel zu schön, um menschlich zu sein.
    Papa sprach oft vom Engel der Musik, aber obwohl ich seinen Geschichten weiterhin entzückt lauschte, habe ich an den Engel eigentlich nur geglaubt, als ich noch sehr klein war. Er war eben eine von Papas wunderlichen Phantasien, eine Gutenachtgeschichte, die ich während meiner ganzen Kindheit liebte und erst traurig aufgab, als ich das Alter von Einsicht und Desillusionierung erreichte. Ich kann wohl sagen, daß ich wesentlich später in dieses Alter kam als die meisten anderen Mädchen. Papa hatte einen Widerwillen dagegen, daß ich erwachsen wurde und ihn verließ. Er ließ

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