Kay Susan
und so tun, als werde sich nie etwas ändern, als werde er immer müde auf dieser Couch liegen und niemals etwas Erschreckenderes verlangen als ein Glas von meinem wirklich verheerenden Tee.
Es gibt keinen Engel der Musik.
Und doch lebt er in meinem Kopf weiter, in meiner Stimme – und in meiner Seele.
Mir scheint, ich habe in Christine eine Krankenschwester bekommen.
Nicht die Geliebte, nach der ich mich so maßlos sehnte, sondern eine freundliche, aufmerksame kleine Krankenschwester. Ich bin nicht sicher, ob es besser ist als nichts, gepflegt zu werden, als sei ich ihr kranker Vater.
Mir ist vollkommen klar, daß es ihr gefällt, mich hier auf dieser Couch zu sehen. Sie fühlt sich dann sicher. Solange sie denkt, ich sei zu krank, um aufzustehen, kann sie sich sagen, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Allmählich merke ich, wie kindlich sie in Wirklichkeit noch ist, wie erschreckend unreif und verwundbar, ja labil. Sie hat einen fatalen Makel an sich wie eine Ming-Vase, die einen haarfeinen Sprung hat, aber gerade diese Unvollkommenheit bewirkt, daß ich sie noch zärtlicher liebe.
Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wohin ich von hier aus gehen soll, aber ich kann nicht für den Rest meiner natürlichen Existenz auf dieser schrecklichen Couch liegen bleiben. Glücklicherweise sieht es so aus, als würde dieses Dasein nicht mehr allzu lange dauern. Es ist jetzt zwei Wochen her, daß ich Nadir zuletzt gesehen habe, und wenn ich ihn nicht bald treffe, wird der argwöhnische Teufel anfangen, ernsthaft und entschlossen nach mir zu suchen.
Das ist eine Komplikation, die mir im Augenblick höchst ungelegen kommt. Ich habe also gar keine Wahl.
Morgen werde ich sie allein lassen müssen, wenn ich über den See rudere, um mich seinen unvermeidlichen Fragen zu stellen.
Gerade habe ich einen Schock erlebt.
Als ich heute morgen ein Tablett in Eriks Zimmer trug, fand ich ihn neben der Orgel stehend, in vollem Abendanzug, mit der Maske, einem breitrandigen Filzhut und einem wunderschönen schwarzen Umhang. Er sah plötzlich so stark aus, so unglaublich machtvoll, daß meine Hände mit dem Tablett zitterten. Es war wie ein halbvergessener Traum, der mir wieder einfiel, und plötzlich begriff ich, wie er an dem Abend ausgesehen haben muß, an dem er mich herunterbrachte. Ich habe keine bewußte Erinnerung an diese seltsame Reise, aber irgendein tief vergrabenes Bild rührte sich nun und genügte, um mich das Tablett an die Brust drücken zu lassen.
»Ich habe dein Frühstück gebracht«, sagte ich töricht.
Er drehte sich um und sah mich an, und die Bewegung versetzte den Umhang in einen anmutigen Schwung.
»Du mußt verzeihen, meine Liebe«, sagte er mit der ruhigen, nachsichtigen Höflichkeit, mit der er stets zu mir spricht. »Ich fürchte, ich muß für ein Weilchen ausgehen.«
»Ausgehen?« wiederholte ich. »Aus dem Haus?«
»Ich bin kein Einsiedler, Kind. Und ich habe eine wichtige Verabredung, die ich einhalten muß. Du hast doch keine Angst, allein hierzubleiben, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte ich. »Kann ich mit dir kommen?«
»Es tut mir leid, das ist unmöglich.«
Seine Stimme war noch immer freundlich, aber mit einem unverkennbar gebieterischen Unterton, der mich einwilligend den Kopf beugen ließ.
»Aber du wirst auf dich aufpassen?« flüsterte ich.
»Wenn du möchtest«, sagte er ernst. »Warte hier auf mich.«
Einen Augenblick später schloß sich die Tür hinter ihm.
5. Kapitel
Nadir erwartete mich am anderen Ufer, und schon lange bevor ich es erreicht hatte, konnte ich sehen, daß sein Gesicht einen sehr grimmigen Ausdruck trug. Sobald ich das Ufer betreten hatte, ging er auch schon zum Angriff über.
»Christine Daae!« sagte er streng und ohne jede höfliche Einleitungsfloskel. »Christine Daae, Erik!«
Zum Teufel! Das hatte ich befürchtet.
»Was werfen Sie mir diesmal vor, Daroga?« fragte ich vorsichtig. »Gewiß keinen Mord.«
»Ich weiß, daß das Mädchen seit zwei Wochen nicht mehr gesehen worden ist. Und ich weiß auch, daß Sie gewöhnlich verantwortlich sind, wenn hier jemand unerwartet verschwindet.«
»Dies ist ein Theater«, sagte ich achselzuckend. »Dauernd gehen Mädchen mit ihren Liebhabern durch.«
»Nun, in diesem Falle sieht es eher so aus, als sei der Liebhaber zurückgelassen worden. Sie müssen wissen, das Kind ist mit dem Vicomte de Chagny verlobt. Wollen Sie ihm vielleicht eine Nachricht schicken?«
Ich packte Nadirs Arm mit einem Griff, der
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