Kay Susan
Ärmel legte.
»Komm jetzt«, flüsterte ich, »du muß verarztet werden. Für Sally kannst du ohnehin nichts mehr tun.«
»Ich muß sie begraben«, sagte er in dumpfer Verzweiflung. »Ich muß sie begraben und ihr ein Requiem singen.«
»Das kannst du nicht tun!« keuchte ich entsetzt.
»Sie wird ihr Requiem bekommen!« schluchzte er. »Ein Requiem, das ihre Seele zu Gott trägt.«
»Ja«, sagte ich hastig und betete im stillen, die Duldung dieser Blasphemie möge mir vergeben werden. »Aber nicht heute abend. Du bist verletzt, Erik, merkst du das nicht? Du mußt dich ausruhen, während ich die Wunde verbinde.«
»Ich muß sie begraben«, wiederholte er, als habe er meine Worte nicht gehört. Er stand auf, und obwohl der rote Fleck auf seinem Hemd besorgniserregend weiterwuchs, wußte ich, daß ich ihn nicht aufhalten konnte. Er war zwar verwundet und gebrochen vor Kummer, aber noch immer stärker als ich, noch immer fähig, mich durch den Raum zu schleudern, wenn ich mich seiner wilden Entschlossenheit widersetzt hätte. Also nahm ich eine Laterne und leuchtete ihm auf dem Weg in den Gemüsegarten hinter dem Haus.
Ich weinte, während ich zusah, wie er sich abmühte, in dem steinharten Boden ein Grab auszuheben. Er erlaubte nicht, daß ich ihm half.
Als es getan war, stolperte Erik ins Haus zurück und brach auf dem Sofa im Wohnzimmer zusammen. Ich riß das durchweichte Hemd auf, aber er blutete so stark, daß ich nicht gleich die Wunde fand und spürte, wie ich in Panik geriet.
»Madeleine!«
Ich drehte mich um und sah erleichtert, daß Etienne in der offenen Tür stand, den Hut in einer Hand, seine Tasche in der anderen. Mit einem einzigen Schritt schien er bei mir zu sein und beugte sich besorgt über das Sofa.
»Wer hat das getan?« fragte er mit kalter Wut.
»Ich weiß nicht. Es war ein ganzer Haufen, Männer und Jungen. Sie haben den Hund umgebracht. Er hat mit ihnen gekämpft, und dann . . . O Gott, Etienne, ist es ernst?«
Er runzelte die Stirn, während er mit kundigen Fingern die Wunde untersuchte.
»Der Stich hat die Lunge verfehlt, er hat großes Glück gehabt. Mach bitte etwas Wasser heiß und bring mir Salz.«
Ich tat, wie mir aufgetragen. Dann kehrte ich zurück und sah ängstlich zu, wie Etienne meinen Sohn flink und geschickt behandelte. Er war sehr ruhig, und nichts in seinem Verhalten ließ darauf schließen, daß dieser Patient sich in irgendeiner Hinsicht von seinen anderen Patienten unterschied.
Erik lag ganz still da und beobachtete ihn mit wachsamer Feindseligkeit.
»Sind Sie Dr. Baryé?« fragte er müde.
Etienne lächelte kurz und bejahend.
»Warum helfen Sie mir?«
»Ich bin Arzt«, sagte Etienne mit einer sanften Geduld, die mich überraschte. »Es ist meine Pflicht, denen zu helfen, die meiner Dienste bedürfen. Du warst ein sehr tapferer Junge, Erik. Ich werde dir jetzt etwas geben, das dich schlafen läßt.«
Zu meiner überraschten Erleichterung nahm Erik die Arznei widerspruchslos ein, nach wenigen Minuten wurde sein Atem regelmäßig, und die Augen fielen ihm zu.
Etienne schloß seine Tasche und starrte das Gesicht auf dem Kissen an. Jetzt, da er seine Gefühle nicht mehr hinter seiner Berufswürde verbergen mußte, konnte ich das schockierte Mitleid und den Unglauben in seinen Augen sehen. Er streckte abwesend die Hand aus und ergriff meine.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte er langsam. »Das ist kein einfacher Fall von Entstellung, es ist fast, als ob . . . «
Er verstummte, suchte nach Worten und Gedanken, die selbst jenseits der Reichweite seines scharfen Verstandes lagen.
»Lamarck hat zwei Gesetze definiert, die den Aufstieg des Lebens zu höheren Stufen bestimmen«, hörte ich ihn vor sich hin murmeln. »Ist es möglich, daß es noch einen anderen bestimmenden Faktor gibt: die spontane Mutation einer Lebensform?«
Seine gemurmelten Überlegungen überstiegen mein Verständnis, und nach einer Weile gab er das vergebliche Ringen um eine Erklärung des sogar für ihn unbegreiflichen Phänomens auf und kam, um die Arme um mich zu legen.
»Ich kann das Verhalten der Dorfleute nicht billigen, aber wenigstens kann ich es jetzt verstehen. Madeleine, es ist unmöglich, daß du ihn weiter in diesem Haus versteckst. Nach diesem Vorfall werden sie dich nie mehr in Ruhe lassen. Zu seinem eigenen Besten mußt du mir gestatten, ihn an einen sicheren Ort zu bringen.«
»In eine Anstalt . . . eine Irrenanstalt?«
Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen, doch Etienne zog
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