Kay Susan
abgekühlt war, nicht eher. Bis dahin wollte ich ihn in Frieden lassen.
Sie verschwand für einen Augenblick und kehrte mit einem Schal um die Schultern zurück.
»Wenn du ihn nicht holst, dann werde ich es tun«, sagte sie unter Tränen. »Ich möchte ihm sagen, daß es mir leid tut.«
Ich starrte sie verblüfft an. Soweit ich wußte, hatte Luciana in ihrem ganzen Leben noch nie gesagt, daß ihr etwas leid tue.
»Papa«, sagte sie bebend. »Papa, ich werde ihn bitten, die Maske abzulegen.«
Irgendwo tief in meinem Inneren begann eine Alarmglocke zu läuten, und ich schüttelte den Kopf.
»Um diese Nachtzeit wirst du nirgends hingehen«, sagte ich entschieden.
»Aber Papa . . . «
»Um Himmels willen, laß den Jungen in Ruhe!« brüllte ich plötzlich. »Er will nicht, daß du ihn ohne Maske siehst, du nicht und auch sonst niemand! Du bringst ihn um den Verstand, Luciana. Heute morgen wollte er dich umbringen, hast du das gewußt?«
Sie keuchte; ihr Gesicht war kalkweiß, und sie starrte mich aus rotgeränderten Augen an.
»Er würde mir nichts tun. Ich weiß, daß er mir niemals etwas antun würde!«
Ungeduldig wandte ich mich ab und griff nach meiner Pfeife.
»Du weißt nichts von ihm, absolut nichts! Du provozierst ihn mehr, als ein Mensch aushalten kann. Jeder andere Junge hätte dich schon vor drei Monaten vergewaltigt!«
Ihr Mund öffnete und schloß sich wortlos bei der Grausamkeit meiner bösen Worte. Dann sank sie langsam zu Boden und begann zu weinen.
Eine Zeitlang saß ich in meinem Sessel und sagte kein einziges tröstendes Wort. Schließlich aber ging ich zu ihr, hob sie auf und trug sie die Treppe hinauf, ihren Kopf an meiner Schulter wie damals, als sie ein kleines Kind war. Sie war bejammernswert leicht. Sie konnte nicht viel mehr wiegen, als sie mit zehn Jahren gewogen hatte.
Als ich sie auf ihr Bett legte, sah sie mich mit tiefster Verzweiflung an.
»Ich muß ihn sehen, Papa«, sagte sie ruhig. »Ich muß ihn sehen.«
Ich wußte, daß sie recht hatte. Es gab keine andere Möglichkeit, diese mittsommerliche Verrücktheit zu beenden, die uns alle zu zerstören drohte.
∗ ∗ ∗
Ich saß noch ein paar Stunden in meinem Zimmer, starrte die Wand an und wischte mir gelegentlich mit einem Taschentuch die Stirn. Es war fast zwei Uhr morgens, aber die Hitze war noch immer erdrückend. Da ich wußte, daß an Schlaf nicht zu denken war, ging ich hinauf auf die Dachterrasse, wo es kühler war.
Weil ich nichts Besseres zu tun hatte, begann ich, die Blumen zu gießen. Auf diese Weise war ich im Schatten verborgen, und Erik sah mich nicht, als er mit schleppenden Schritten heraufkam und sich auf die Travertinbank fallen ließ. Er legte einen Arm über die Rückenlehne und lehnte in einer Haltung völliger Erschöpfung den Kopf darauf. Als er sich nicht mehr bewegte, fragte ich mich, ob er vielleicht eingeschlafen sei und ich mich ungesehen davonstehlen könne.
»Erik!«
Lucianas unerwartetes Flüstern ließ ihn auffahren wie ein Pistolenschuß. Er sprang auf die Füße, stand steif da und wandte ihr instinktiv den Rücken zu, während sie näher kam.
»Ich möchte, daß Sie die Maske abnehmen«, sagte sie einfach und ohne Hochmut. »Bitte, nehmen Sie die Maske ab.«
»Sie müssen mich entschuldigen, Mademoiselle«, sagte er, mit abgewandtem Gesicht an ihr vorbeigehend, »ich habe noch zu arbeiten.«
»Ich werde Sie nicht entschuldigen!« rief sie ihm nach. »Sie haben nicht mehr zu arbeiten! Ich möchte, daß Sie die Maske abnehmen, hören Sie mich, Erik? Ich möchte, daß Sie sie abnehmen, jetzt sofort!«
Ganz plötzlich entschloß ich mich, vor ihn hinzutreten, als er sich der Treppe näherte.
»Signor?« Er blieb stehen und sah sich um wie ein Fuchs, der spürt, daß die Jäger ihm auf den Fersen sind. Ich legte eine Hand auf seinen Ärmel.
»Erik, wir haben keine andere Wahl mehr.«
»Es tut mir leid. Ich verstehe nicht . . . «
»Ich glaube, es wäre am besten, wenn du einfach tust, worum meine Tochter dich gebeten hat.«
Er stand vollkommen reglos und starrte mich mit so schmerzerfülltem Entsetzen an, daß ich die Augen von den einstürzenden Ruinen seines Vertrauens abwenden mußte.
»Sie verlangen von mir, daß ich das tue?« Ich hörte ein ungläubiges Zittern in seiner Stimme. »Sie befehlen es mir?«
»Wenn ein Befehl dazu nötig ist«, sagte ich traurig, »dann befehle ich es dir. Allmächtiger Gott, Junge, du mußt doch sehen, daß es so nicht mehr weitergehen kann.«
Er schwankte ein wenig
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