Kayankaya 4 - Kismet
hinterließen zwischen Bankentürmen und Hauptbahnhof sieben Straßen, die wie ein unbewachter Berg aus Gold bald bis in die hintersten Ecken Europas strahlten. Es dauerte keinen Monat, bis die ersten Banden einfielen, einige Barbesitzer umlegten, um sich Respekt zu verschaffen, und glaubten, das Viertel mit harter Hand regieren zu können. Aber dafür brauchte es mehr, als Angst zu verbreiten. Die Gebrüder hatten es geschafft, ihren Untergebenen ein Gefühl von gegenseitigem Profit anzudrehen, als Garanten für Frieden und Einkommen zu gelten, und waren relativ verläßlich. Wer aufmuckte, bekam eins in die Fresse, wer fleißig war, tausend mehr aufs Konto. Außerdem kauften sie ihre Anzüge von der Stange und kannten fast jeden im Viertel mit Vornamen. Die neuen Herren mit Maßanzügen und Brillantringen wußten gerade mal den Namen der Stadt, in der sie sich befanden, nahmen Prozente, wann und wie es ihnen gefiel, und wenn sie schlechte Laune hatten, ließen sie den erstbesten zusammenkloppen. Abmachungen galten nichts, und Verlaß war nur auf Ärger. Nachrückende Banden hatten es von Mal zu Mal einfacher. Wenn früher irgendwelche Gangster mit Übernahmeabsichten im Viertel aufgetaucht waren, erfuhren die Gebrüder Schmitz innerhalb von Stunden davon und konnten auf eine Masse von Getreuen rechnen. Jetzt warnte keiner die Machthaber, geschweige denn, daß ihnen jemand half. Im Gegenteil, jeder war froh, wenn sie verjagt wurden. Und so lief es sieben Jahre lang. Immer neue, immer isoliertere Bosse, die immer schneller ihren Platz räumen mußten. Aus Deutschland, Österreich, Italien, Albanien, Rumänien, der Türkei, Jugoslawien, Rußland, Weißrußland, und einer Handvoll Ländern Südamerikas. Man hatte das Gefühl, im Frankfurter Bahnhofsviertel finde eine Art Verbrecherolympiade statt. Dabeisein war alles. Manche blieben nur so kurz am Drücker, daß sie kaum ihre Reisekosten reinbekamen. Von einem Lebensmittelhändler wurde erzählt, er habe, uninformiert über den letzten Machtwechsel, einer Gruppe hartgesottener Lackaffen ein freundlich gemeintes »Adios« hinterhergerufen, woraufhin die beleidigten Letten seinen Laden zertrümmerten.
Und nun schien es, nach einem Jahr relativen Friedens, wieder unruhig zu werden. Von den Wirten und Kellnern, die mit mir gesprochen hatten, wußte ich, daß sämtliche Bahnhofsviertelfürsten über die Erpressungsversuche der Armee informiert waren und gemeinsam dagegen vorgehen wollten. Seit zwei Tagen hatten sie an allen wichtigen Straßenecken rund um die Uhr Posten aufgestellt. Allerdings waren die Armeeangehörigen bisher immer so schnell aufgetaucht und verschwunden, daß der jeweilige Posten kaum Zeit genug gehabt hatte, das Mobiltelefon aufzuklappen. Ab morgen sollte darum an jedem Straßenabschnitt, der aus dem Viertel hinausführte, ständig ein Wagen mit Fahrer bereitstehen, der den Weg blockieren konnte. Innerhalb weniger Minuten sollte dann eine Art mobiles Einsatzkommando herbeistürmen und sich die stummen Anzugträger vorknöpfen.
So dachte man sich das jedenfalls. In Anbetracht der letzten Nacht und des blitzartigen Griffs der Armeeangehörigen zur Pistole war ich mir ziemlich sicher, eine Kalkulation mit mehreren Minuten Spielraum sei eine falsche Kalkulation. Den Chef der albanischen Abteilung des Bahnhofsviertels kannte ich, und ich wußte seine Geheimnummer. Ich hätte ihn anrufen und ihm erzählen können, was für einen Dreck sich die Armee der Vernunft nach meiner Erfahrung um im Weg stehende Autos kümmern würde. Entweder sie brächen einfach durch, oder es gäbe ein Blutbad. Aber ich kannte auch die Angestellten des Albaners, und wenn ich den Chef irgendwie mochte, weil er für einen Gangsterboss überraschend oft auch mal die Klappe halten und nachdenken konnte, so hatte ich doch keine Lust, mich mit seinen Schlägern zu verbünden. Jedenfalls noch nicht. Erst mußte ich herausfinden, wer oder was diese Armee war - wen ich gestern nacht erschossen hatte.
Es war kurz vor neun, als mir Slibulsky im Bademantel die Tür öffnete. Murmelnd, er sei von der letzten Nacht und einem Tag Rumgerenne fix und fertig, schlurfte er zurück ins Schlafzimmer und kroch ins Bett. Um ihn herum häuften sich aufgerissene Keksschachteln, Schokoladentafeln und Gummibärchentüten. Im Fernsehen lief Basketball. »Die Bonbons liegen in der Küche.«
Ich holte die angebrochene Packung, setzte mich zu ihm auf die Bettkante und wickelte einen aus. Johannisbeerbonbons
Weitere Kostenlose Bücher