Kaylin und das Geheimnis des Turms
Seite.
Der Mann hob seine Hände und nahm die Kapuze von seinem Gesicht, und sie sah in die blauen Augen des Lords des Barranihofes. “Ihr seid hier sicher”, sagte er steif, “jetzt.” Doch seine Worte und seine Stimme klangen angespannt.
Sie betrachtete den Kreis, der sie umschloss.
“Ja”, sagte er knapp. “Er wird halten.” Sein Blick fiel auf die Gestalt auf der Brücke. Es war keine Liebe darin zu sehen, aber er erkannte, was er sah – und nicht auf die Art, wie ein Mann seinen Sohn erkennt, selbst wenn er sich von ihm entfremdet hat.
“Geh zurück”, sagte er leise.
Der Mann auf der Brücke lächelte. “Ich kann noch nicht vorwärts gehen”, sagte er, “aber ich trage den Namen deines Sohnes.”
“Ja. Das tust du. Aber auch er trägt ihn noch. Und du trägst noch lange nicht
meinen
.”
“Das nicht, aber bald werde ich ihn auch nicht mehr brauchen.”
“Ich werde meinem Sohn die Gabe nicht weiterreichen.”
“Dann wirst du ihn umbringen … einen anderen Weg gibt es nicht.”
“Einen gibt es doch”, antwortete der Lord des Barranihofes müde. “Geh zurück.” Und er hob eine Hand, und die Brücke
bewegte sich
. Sie zerriss den Nebel.
Lord Evarrim sah Kaylin mit einer Mischung aus Verachtung und Respekt an. “Es ist an der Zeit, diesen Ort zu verlassen”, sagte er zu ihr.
Sie hasste es, ihm zuzustimmen, aber da alle anderen Möglichkeiten noch weniger ansprechend waren, nickte sie. Sie zogen sich aus der Höhle zurück.
Dieses Mal versperrte ihnen keine Tür den Weg. Der Lord des Barranihofes führte sie, und wohin er sie führte, war der Weg sauber und eben. Der natürliche Torbogen, in dem die Tür geruht hatte, war noch da, unverändert, es war nur nichts mehr darin.
Er verließ die Kammer, und sie folgte. Er durchschritt die Tunnel und blieb vor jeder Rune stehen, wie um sie zu lesen oder daraus Kraft zu schöpfen. Endlich führte er sie zurück zu den Treppen. Alles geschah schweigend. Kaylin war sich bewusst, dass sie neben Evarrim ging, aber sie spürte keine Bedrohung von ihm. Er konnte sich kaum aufrecht halten. Er stolperte nicht, und er zögerte auch nicht. Er lehnte sich nicht einmal gegen die Wand, um sich zu stützen. Aber sein Gesichtsausdruck hatte an Schärfe verloren. Er hatte nur noch Augen für zwei Dinge. Den Lord des Barranihofes und den Boden.
Die Treppe hinaufzusteigen war weniger bedrohlich, als es der Anstieg ins Unbekannte gewesen war. Das Knurren erklang immer noch hinter ihren Rücken – aber noch schlimmer war das Heulen der Verdammten. Sie konnte es jetzt deutlich hören. Sie fragte sich, ob sie ihre Stimmen in diesen Hallen je würde vergessen können.
Endlich kamen sie an das Ende der Treppe, und Lord Evarrim ging am Lord des Barranihofes vorbei, der sich im Torbogen umgedreht hatte. Er sah Kaylin an.
“Du”, sagte er, “wirst mich begleiten.”
Sie nickte.
“Deine Wachen werden sich dem Lord der Westmarsche anschließen. Sie werden nicht von seiner Seite weichen, bis ich sie zu mir kommen lasse.”
Sie nickte wieder.
Er sah Severn an und zögerte. “Deinen
Kyuthe
werde ich allerdings zulassen.”
Sie setzte an zu sagen, dass Severn nicht ihr
Kyuthe
war, hielt dann aber inne. Was nützte es? Sie nickte wieder. Er drehte sich um und durchschritt den Torbogen, und es war, als folgten sie in seinem unsichtbaren Sog.
Sein Weg führte nicht in den Kreis des Hofes. Kaylin hatte es auch nicht erwartet. Sie hatte überhaupt keine Erwartungen, wo genau er hingehen würde, und war überrascht, als er sie in etwas führte, das wie eine ganz normale Halle aussah. Na ja, für die Hohen Hallen. Boden und Decke waren von barranischen Runen eingefasst, und es gab Spiegel und kleine Wandnischen, in denen Pflanzen wuchsen, aber es gab keine Waffen und kein Anzeichen von älterem, ungeschliffenem Stein. Diese Hallen wurden von Barrani gebaut, nicht von den Alten.
Türen flogen auf, sobald er sich ihnen näherte, auch wenn auf ihnen Schutzzauber lagen, die theoretisch erst ihr Maß an Schmerz auslösen mussten. Sie folgte rasch. Die wenigen Barrani, die sie aus dem Augenwinkel erspähte, verschwanden wie blasse Sterne, wenn sie ihre volle Aufmerksamkeit auf sie richtete. Das ganze Gebäude hätte genauso gut verlassen sein können.
Der Lord des Barranihofes führte sie zu einer schmaleren Tür am Ende des Ganges und öffnete sie auf die herkömmliche Art.
Sie führte in einen Raum, der Kaylins Gästezimmer sehr ähnlich sah, nur gab es kein
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