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Kaylin und das Geheimnis des Turms

Kaylin und das Geheimnis des Turms

Titel: Kaylin und das Geheimnis des Turms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
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Teil von Kaylin, der auf eine andere Art zuhörte. Sie glaubte, es war die Heilerin.
    “Ich habe von Euch geträumt”, sagte sie zu ihm.
    Daraufhin tat er etwas Seltsames und Furchtbares: Er lächelte. In seiner Miene lag wahre Belustigung. Und das hätte nicht sein dürfen. “In meiner Jugend”, sagte er zu ihr, “haben das viele Sterbliche getan.”
    Daraufhin bekam sie das Gefühl, dass er sie in Sicherheit wiegen wollte. Oder sie ablenken. Beides wäre nett, und die Barrani waren nicht für ihre Großzügigkeit bekannt. Vielmehr waren sie das doch, aber nicht dafür, dass sie sie hatten.
    Und doch war dieser von seiner Milde gezeichnet, beschmutzt und verdammt worden. Das wusste sie jetzt. Sie hatte gesehen, was er sich hatte stellen müssen, und in seinem Versagen erkannte sie ihr eigenes. Stolzes Versagen. Was das über ihn sagte – für Kaylin –, war nicht, was es für den Lord des Barranihofes bedeutete. Zu ihr sprach es, wie es kaum etwas aus den Legenden der Barrani je getan hatte.
    Sie redete deutlich und auf Barrani. “Es war meine Entscheidung, herzukommen.”
    Er sah sie aus der Mitte des Kreises heraus an. “Meine Mutter”, sagte er sanft zu ihr, auf
Elantranisch
, “war nie sehr stark. Sie war ein Mädchen, und ein dummes dazu. Sie hätte dir in ihrer Jugend gefallen.”
    “Sie gefällt mir auch jetzt.”
    “Es ist ein Fehler”, entgegnete er, “für einen Lord des Barranihofes. Sie wollte für ihre Kinder, was sie bei ihren Brüdern nicht gefunden hat. Und sie hat die Wahl getroffen. Und jetzt sind wir hier, wir alle. Es wäre besser gewesen, wenn sie wie mein Vater gehandelt hätte.”
    In seiner Stimme lag der Tod. Und der Funke des Lebens klammerte sich an ihre Ränder. Sie konnte jetzt beides erkennen.
    “Ich kann sie nicht verurteilen.”
    “Nein. Dazu bist du zu menschlich. Du kannst nicht einmal mich verurteilen.” Er hob eine Hand. Ihr entgegen.
    Sie schluckte. Sie hörte, wie seine Schwester sich bewegte, und spürte an ihrer Seite eine Anwesenheit – aber einen Schritt hinter ihr.
    Dann hob sie ihren Arm, als würde er so viel wiegen wie sie selbst, streckte die Hand aus, zitterte dabei, und berührte die Hand, die der Lord der grünen Auen ihr entgegenstreckte.
    Und in der Dunkelheit spürte sie Eis und Feuer, und sie hörte die Stimmen der Dunkelheit
sprechen
. Sie verstand die Worte nicht und war froh darum.
    Die Lady an ihrer Seite sagte nichts.
    Der Lord der grünen Auen schloss seine Hand um ihre. Er hob die andere Hand und fasste nach Kaylins linkem Handgelenk. Wo er ihre Haut berührte, brannte sie, wo er die Zeichen auf ihrer Haut berührte, flammten sie blau und hell auf.
    Aber dieses Mal sah sie nicht, wie sich ihr ganzes Leben noch einmal vor ihren Augen abspielte. Sie war nicht gezwungen, es noch einmal zu leben. Sie wurde nicht in diese Fluten geworfen. Stattdessen spürte sie das schwere, schwere Gewicht eines Wortes, etwas Lebendiges, eine Rundung, die auf ihrer Handfläche fast gerade auflag. Nicht ihr Name.
    Und dann erinnerte sie sich, erinnerte sich daran, ihn zu heben, als würde sie gegen die Strömung und den Fluss des Barranilebens ankämpfen.
    Sie sah ihm in die Augen. Sie waren schwarz und weit geöffnet. Sie sah tiefer hinein und bemerkte Schatten, den Abgrund, die flüsternden Stimmen der Verdammten. Ihre Klagen. Ihr Flehen.
    Alle verloren. Aber nicht
dieser
Mann. Noch nicht.
    Er nahm ihr das Wort ab. Sie spürte, wie es sie verließ, spürte, wie seine Hände darüber- und hindurchfuhren und Halt suchten. Es war auf jede Art größer als er, und während ihre Zeichen blau aufleuchteten, beleuchteten sie, was sie zu berühren gewählt hatte. Sie hatte es noch nicht gesehen. Konnte es nicht. Damals nicht.
    Aber jetzt war es riesig, größer als sie selbst, eine lange, glühend schwarze Kurve, die sich von einem Ende der riesigen, rauen Grotte zum anderen zu strecken schien. Und sie sah sie deutlich nicht als Wort, sondern als einzelne Kurve, als einzelnes Zeichen.
    Da wusste sie, sie hatte recht gehabt: Sie hatte es für ihn getragen. Aber es war
kein
Wort. Es war
kein
Name. Sie hätte geweint, wäre ihr Zeit oder Kraft geblieben; beides blieb ihr nicht. Das Gewicht dieses einen langen Striches zu halten erforderte alles, was sie aufbringen konnte.
    Sie flüsterte etwas. Konnte später nicht sagen, was es war, oder vielmehr, was die Worte waren, denn ihre Bedeutung war klar. Das kam aus der Verzweiflung.
    Gebt mir Euren Namen.
    Es war kein

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