Kaylin und das Geheimnis des Turms
Rassen nicht aufgepasst hast …”
“Moran, bitte?”
“Drachen bedeuten Ärger. Streit zwischen Grammayre und Marcus bedeutet Ärger. Barrani bedeuten Ärger, und das Arkanum auch. Alles miteinander zu vermischen
muss
noch schlimmer sein. Ich hatte vielleicht noch nicht erwähnt, dass Lord Evarrim ungefähr fünfundvierzig Minuten, ehe du eingetroffen bist, bei uns war. Ich will dich
nicht
auf Reds Untersuchungstisch sehen. Besonders will ich dich nicht selbst dort abliefern müssen, in Ordnung? Tu einer selbstsüchtigen Frau den Gefallen, Kaylin.”
Kaylin schluckte und nickte.
Lord Sanabalis saß tatsächlich auf Marcus’ Stuhl. Moran hatte die Gabe der Barden, ihre Geschichten auszuschmücken, aber sie hatte sie nicht gebraucht. Manchmal war die Wahrheit wirklich merkwürdiger als alle Fiktion. Die Augen des Drachen allerdings waren ein wenig zu orange, um sich in ihrer Gegenwart wohlzufühlen. Er bemerkte sie lange, ehe sie den Schreibtisch erreicht hatte, und hob seine unteren Membranen über die Augen.
“Gefreite Neya”, sagte er und stand auf.
“Wo ist Marcus – Hauptmann Kassan?”
“Er spricht gerade mit Lord Grammayre. Ich habe die Gelegenheit genutzt, meine alten Beine auszuruhen.”
Sie schnaubte fast. Drachen lebten ewig, Alter war für sie nur eine Frage des Zurechtmachens. Sie fragte sich, warum Sanabalis sich entschlossen hatte, gealtert auszusehen, war aber zu klug, um nicht zu fragen. “Wenn Ihr Feuer atmen könnt”, sagte sie stattdessen, “wäre Marcus Euch wirklich sehr dankbar, wenn etwas davon die Papiere auf seinem Schreibtisch erfassen würde.”
Sanabalis hob eine weiße Augenbraue. “Du hast deine erste Lektion bereits versäumt”, rügte er sie, “und ich bin ein viel beschäftigter Mann.”
“Deshalb seid Ihr auch noch hier.”
“Ich verstehe, warum der kaiserliche Orden der Magier dich als schwierig eingestuft hat.” Er stand auf. “Aber ich bin wenigstens eben so stur, wie du es glaubst zu sein. Vielleicht noch mehr – ich habe den Vorteil der Erfahrung. Du wirst gleich gebraucht, aber ich kann warten. Ich glaube, Hauptmann Kassan ist fast da.”
“Ich höre nichts von …”
Marcus stapfte durch den Bogen, der in den Turm führte. Das Fell um sein Gesicht stand so, dass darunter das weichere, weißere Unterfell sichtbar war, und seine Augen hatten die ganz falsche Farbe. Zuerst bemerkte sie aber seine Fangzähne.
Sie hob ihr Kinn fast automatisch und zeigte ihm ihre Kehle.
“Neya!” Er knurrte und übersprang das letzte Stück, das sie noch trennte. Dass der Drache ihm im Weg stand, schien ihm gar nicht aufzufallen, aber er musste es gewusst haben, denn es gab keinen Zusammenstoß. Was fast schade war, denn Kaylins Instinkte hatten die Führung übernommen, und sie berechnete bereits die Chancen einer Wette in dem beinahe menschenleeren Büro. Glücklicherweise konnte sie tatsächlich wetten und gleichzeitig still stehen.
Krallen berührten ihren blanken Hals. Sie spürte, wie sich jede einzelne in ihre Haut grub, als wollten sie die Nachgiebigkeit testen. Sie hatte keine Angst, das hatte keinen Sinn. Marcus hatte ein- oder zweimal Blut vergossen – manches davon ihres –, aber auch wenn die Bürolegenden von Leichen sprachen, die seinen Weg säumten, hatte sie davon nie welche gesehen.
Seine Krallen zogen sich zurück, und sie spürte die sanften Kanten seiner Klauen an ihrem Hals, ehe er sie endlich losließ. Seine Augen waren gelb und leuchtend, doch seine Lippen hatten sich wieder schützend über seine Zähne gelegt. Schützend für sie, war gemeint, nicht für seine Zähne.
“Du lebst”, sagte er barsch.
“Mehr oder weniger. Wenn es hilft, ich fühle mich ätzend.”
Sein Blick wanderte fragend zu ihrer Wange. Sie schüttelte den Kopf. “Keine Probleme.”
“Teela hat auf dich aufgepasst?”
“Könnte man so sagen.”
“Keine Gewalt.”
“Das könnte man auch so sagen, aber es würde sehr viel weniger stimmen.”
“Hast
du
mit den Anfeindungen angefangen?”
“Nein, Sir.”
“Dann gab es keine Gewalt.”
“Ja, Sir.”
“Der Falkenlord wartet.”
“Ja, Sir.” Sie begab sich auf den Weg zum Turm.
“Gefreite?” Oh, er hatte
diese
Laune.
“Ja, Sir?”
“Bist du Lord Evarrim vom Arkanum begegnet, als du bei den Hohen Hallen warst?” “Hohen” sprach er in genau dem falschen Tonfall.
“Ja, Sir.”
“Hast du mit ihm gesprochen?”
“Kein Wort, Sir.”
“Gut.” Er hielt inne und musterte sie
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