Kaylin und das Geheimnis des Turms
eindringlich. “Lord Sanabalis hielt es für klug, den Arkanisten in ein Gespräch zu verwickeln. Es war … interessant.”
Sie drehte sich zu Sanabalis um, dessen Augen jetzt durch und durch golden waren. Der Drache zwinkerte.
Der Falkenlord stand neben dem Spiegel, die Hand auf seiner Oberfläche ausgebreitet. Es war kein Spiegelbild zu sehen. Er war nicht eitel, er hatte Zugriff auf das Archiv. Aber als Kaylin den Raum durch die offene Tür betrat – offen, zum zweiten Mal in einer Woche –, ließ er seine Hand sofort fallen, und die Oberfläche brach zu einer Welle, die in kaltem, glattem Silber endete.
“Kaylin”, sagte er und sah ihrem Spiegelbild in die Augen, ehe er sich zu ihr umdrehte. “Wie ich sehe, bist zu zurück.”
Sie nickte. Lord Grammayre missfiel das Wort “Sir” aus Prinzip, weil er begriff, das es als Werkzeug zur Distanzhaltung diente. Wenn er seine Männer inspizierte, erwartete er es, wenn nicht, erwartete er echte Informationen.
“Die Schwierigkeit?”
“Wurde … beseitigt.”
“Wie?”
Sie zuckte zusammen.
“Lass mich dir von den Gerüchten erzählen, die den Turm erreicht haben.”
Sie nickte.
“Der jüngere Sohn des Kastenlords war, dem äußeren Anschein nach, tot. Ist das korrekt?”
Sie schüttelte den Kopf.
“Lag er im Sterben?”
Sie zögerte. “Ich … ich weiß nicht.”
“Teela schien es zu denken.”
“Er hat – für mich – ausgesehen, als würde er schlafen. Aber ohne zu atmen.”
Der Falkenlord zuckte auf ihre Sprache hin zusammen. Und wechselte zu Barrani, dieser Bastard. “War er auf irgendeine Art verletzt?”
Sie schwieg. Zu jeder anderen Zeit wäre er wütend geworden. Dass er es nicht wurde, sagte sehr viel aus über sein Wissen um die Gepflogenheiten des Hofes der Barrani. Was beeindruckend war, wenn man bedachte, wie wenig er sich dort aufhielt.
“Und jetzt?”
“Er ist ein arroganter Hundesohn. Als ich gegangen bin, hat er schon wieder Befehle gegeben.”
“Gut. Hat man dich informiert, dass …”
“… Lord Evarrim hier war?”
“Wie ich sehe, verbreiten sich Neuigkeiten schnell.”
“Nur die schlechten.”
Daraufhin lächelte der Falkenlord. Es war, als würde der Winter seine Augen und Lippen berühren und Erstere grau färben. Aschgrau. “Er hat eine Petition in Umlauf gebracht”, erläuterte der Falkenlord ihr.
“Bei
wem
?”
“Dem Kaiser.”
“Und die hat mit mir zu tun?”
“Das hat sie tatsächlich. Er war nicht sehr erfreut, als er dich nicht angetroffen hat.”
“Der ist nie erfreut.”
“Das bezweifle ich, Kaylin. Doch ich hoffe, du musst dich von diesem Eindruck nie verabschieden.”
“Worum geht es in der Petition?”
“Sie hat mit den toten Barrani zu tun.”
“Die im Dienst des …”
“Ausgestoßenen stehen, ja.” Die Worte klangen scharf, wie eine Warnung.
“Und, was soll mit denen sein? Ich dachte, die sind jetzt alle tot.”
“Sie waren bereits tot.”
“Na ja, viel bewegt haben sie sich jedenfalls nicht mehr.” Sie zuckte mit den Schultern.
“Es wird den Rat des Hofes interessieren”, sagte Lord Grammayre leise. “Der Kaiser kennt die Fakten. Das tun nicht viele.”
Sie nickte.
“Ich erwarte, irgendwann vom Lord der Barrani an den Hof berufen zu werden.”
“Aber er ist nicht
Euer
Kastenlord. Ihr müsst nicht …” Sie hielt inne. “Oder doch?”
“Ich bin nicht gezwungen, mich dort zu präsentieren, nein.”
“Aber Ihr werdet.”
“Diese Stadt ist schwer zu regieren, Kaylin.”
“Ihr regiert sie nicht. Das macht der Kaiser.”
“Der Kaiser ist nicht berufen worden. Er ist nicht einmal eingeladen.”
Sie runzelte die Stirn.
“Ich wünsche, dass du dich, wenn möglich, fernhältst.”
“Weil Ihr glaubt, die fragen nach mir.”
Er streckte die Hand nach dem Spiegel aus, der sich unter seinen Fingern bewegte.
Ein Barrani in sehr edlen Roben begann zu sprechen. Und sprechen. Und sprechen. Kaylins Aufmerksamkeit begann zu schwinden, doch die Worte “Kaylin Neya” holten sie wieder zurück.
“Die wollen, dass ich mit Euch mitgehe.”
“Ich würde sagen, die wollen dich, Ende. Auf mich kommt es nicht an. Lord Sanabalis wartet auf dich. Mach für heute mit deiner Lektion weiter. Niemand wird euch stören, während du dich in seiner Gesellschaft befindest.”
“Und danach?”
“Gehst du zurück in dein gegenwärtiges Domizil.”
Kaylin runzelte skeptisch die Stirn. “Ihr wusstet es.”
Er sagte nichts. Das war sehr barranisch von
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