Kaylin und das Geheimnis des Turms
angedeutet, dass … dass sie nicht das Recht hatte, es zu benutzen.”
Nightshade schwieg einen Augenblick lang. Seinen Blick wandte er dabei nicht ab. Er war vollkommen still. Er hätte eine Statue aus schwarzem Marmor sein können, poliert, um das Licht einzufangen.
“Er hat dich
Kyuthe
genannt.”
“Ja”, bestätigte sie leise.
“Und du verstehst nicht, warum.”
“Nein. Aber er hat gesagt, Unwissen ist keine Entschuldigung. Habe ich Ärger? Ich meine, noch mehr Ärger?”
“Das kommt darauf an, Kaylin. Die Augen des Arkanums sind auf dich gerichtet. Ich hätte nicht gedacht, dass noch mehr Ärger möglich ist.” Er stand auf, und sie sah aus, als wäre sie nicht länger aktiver Teilnehmer an ihrem eigenen Leben. Sah ihm zu, wie er sich bewegte, hörte auf das Rascheln des dunklen Stoffes, die fast nicht hörbaren Schritte. Er trat langsam um den Tisch herum, und sie spürte seine Anwesenheit wie einen Schatten, wie aus dem Licht geboren.
Sie spürte genauso deutlich, als er aufhörte, sich zu bewegen. Ihre Wange war warm. Er stand neben ihr, und über ihr, wie eine Laube. Oder ein wartender Käfig.
“Der Falke ist mehr als ein Symbol”, flüsterte er, zu tief, um sie zu berühren, zu leise, um zu hallen. “Und du hast dem Lord alles geboten, was der Falke bedeutet. Dir bedeutet. Er stand am Abgrund unserer Dämmerung, auch wenn du es nicht deutlich sehen konntest, und er hat dein Angebot angenommen.”
“Woher …”
“Es ist gewachsen, Kaylin. Es ist dort gewachsen. Der Lord der Westmarsche ist den alten Barrani ähnlich, sehr ähnlich. Was du gesehen hast, war auf eine Art wirklich. Du hast es dort gelassen. Er hat es angenommen.”
“Nur so konnte ich ihn rufen”, flüsterte sie.
“Ja. Und deine Instinkte sind schärfer, als du ahnst. Du hast gerufen, er hat es gehört. Er ist gekommen. Was du angeboten hast, hätte er zerstören können. Hat er?”
Sie schüttelte den Kopf.
“Ich habe den Schatten dieses Verlustes nicht an dir bemerkt, und das sagt mir viel. Wie er genau wusste. Du hattest keine Worte für das, was du getan hast, auch wenn du sie mit etwas Mühe gefunden hättest. Worte haben Macht, aber diese Macht ist dir nicht gegeben … du hast einen anderen Weg gefunden. Du hast ihn beschenkt, und er hat etwas davon zurückgegeben. Er kennt
dich
. Wenn er deinen Namen spricht, Kaylin, wirst du es hören, und auf eine Art wirst du an ihn gebunden sein.”
“Aber wir
haben
keine Namen. Nicht solche.”
“Nein. Du bist sterblich, deinen Namen zu kennen heißt bloß, zu erfahren, was man wissen kann. Nicht immer bedeutet das automatisch, einen absolut klaren Durchblick zu haben. Es ist nicht dasselbe. Aber du hast ihm etwas Wertvolles überlassen, und er behält es. Du hast es angeboten, er hat akzeptiert. Der Lord der Westmarsche benutzt ‘Kyuthe’ nicht leichtfertig – er ist nicht Anteela. Er hat sich noch nie der Zerbrechlichkeit der Sterblichen stellen müssen.” Seine Hände berührten ihre Schultern.
“Kaylin”, sagte er noch dazu, “der oberste Lord hat den Hof zusammengerufen. Aus Westen und Osten, aus den Bergen und den Meeren, aus Wäldern, die kein Mensch je betreten hat, sind die Barrani seinem Ruf gefolgt. Noch sind sie nicht viele, aber ihre Anwesenheit wird Elantra dennoch spüren. Der Kaiser spürt sie schon jetzt.”
“Warum gerade jetzt?”
“Das ist die einzige Frage, die einer Antwort bedarf. Wenn du sie verstehst, verstehst du das ganze Spiel. Der Lord der Westmarsche wurde als Bedrohung empfunden. Hättest du dich nicht eingemischt, wäre er gestorben. Aber er ist kein Dummkopf, das ist er nie gewesen. Er musste auf Hunderte verschiedene Angriffe vorbereitet sein. Dieser war subtil, und er hatte Erfolg – aber er hätte keinen Erfolg haben dürfen. Was sagt dir das?”
Sie schüttelte den Kopf. “Ich weiß doch nicht einmal, was überhaupt versucht wurde.”
“Das Was ist nicht so wichtig wie das Wie. Denk darüber nach.” Sie spürte, wie der Stuhl sich bewegte, und ließ sich mitziehen. Sie begann sogar aufzustehen, aber ihre Beine waren wie Wackelpudding. Und ihre Lider waren zu schwer.
“Kann ich morgen weiterdenken?”
Sie fühlte sein Lächeln eher, als dass sie es sah. “Dann also morgen. Hast du nicht auch eine Verabredung mit Lord Sanabalis?”
Sie wurde hochgehoben, in Arme genommen. Sie konnte sehen, wie die Flammen aufflackerten und sich legten, wie ihre Stimmen verloschen. “Gibt es irgendwas in meinem Leben, das
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