Kaylin und das Geheimnis des Turms
du nicht weißt?”
“Lord Sanabalis ist eine der ältesten Mächte der Welt”, sagte Lord Nightshade zu ihr, während er sie aus dem Zimmer trug. “Und wenn die alten Mächte sich bewegen, spürt man sie. Es mangelt ihm nicht an List, und auch nicht an Tücke, aber er ist viele Jahre schon damit zufrieden, dem Drachenkaiser zu dienen. Es ist eine Ehre, dass er sich dazu herabgelassen hat, dich zu lehren, ob du das nun weißt oder nicht. Schlafe. Ich werde dich bewachen.”
Es war Nacht, dachte sie. In den Kolonien. Und in der Nacht hatte sie bisher nur einer im Schlaf bewacht. Das wollte sie ihm sagen, aber sie bekam die Worte nicht zu fassen, nur die Angst.
“Du verschenkst deine Liebe zu leichtfertig”, tadelte er sie. “Vielleicht haben wir in unserer Jugend einst das Gleiche getan. Es war eine andere Zeit, die nicht zu uns zurückkommt, ganz gleich, wie lange wir warten. Aber was wir in der Jugend gelernt haben, sehen wir jetzt bestätigt. Ich hätte nicht die gleichen Fehler begangen wie du, Kaylin. Aber ich hätte Severn auch nicht für seine Wahl gehasst. Ich sähe mich tief in seiner Schuld.”
Und was ist mit den Toten? Was ist mit Steffi und Jade? Wie würdest du die begangene Schuld begleichen? Wie würdest du Severn für ihren Tod vergeben?
Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. “Indem ich lernte, Kleines. Lernte, die Unschuldigen nie zu Waffen werden zu lassen, die man gegen mich benutzen kann.”
Seine Worte, so sanft, erinnerten an das Schaukeln eines Schiffes im Hafen. “Hat es lange gedauert? Das zu lernen?”
“Ich habe nie gesagt, dass es eine Lektion ist, die ich selber lernen musste, aber ich habe oft aus den Fehlern anderer gelernt. Und, ja, Kaylin Neya, andere haben sie viel gekostet, und es hat viele, viele Jahre gebraucht.”
“Mehr, als ich habe?”
“Viel mehr.”
Sie schwieg einen Augenblick, und in diesem Augenblick ergab sie sich dem Schlaf. “Gut.”
Als sie erwachte, war es hell. Aber es war kein Sonnenlicht, es warf keine Schatten, an denen sie die Zeit ablesen konnte. Sie trug ihre Kleider, ihre Stiefel trug sie nicht mehr. Die waren ordentlich an die Wand gestellt worden und sahen so fehl am Platz aus, dass es fast peinlich war. Andererseits konnte man das von allem sagen, was sie besaß.
Der Raum selbst war leer. Eine einzige Blume blühte rotblau über dem Rand einer silbernen Vase auf einem Tisch neben dem Bett. Versuchsweise streckte sie sich. Ihre Arme und Beine waren steif, aber der Schmerz des vergangenen Tages war verschwunden.
Der Spiegel stand am anderen Ende des Raumes. Sie konnte sich selbst – und nur sich selbst – in seiner Oberfläche sehen. Kein wütendes Knurren hatte ihren Schlaf unterbrochen. Sie stand auf, wechselte von einer Uniform in die andere und zog Hosen an, die nicht voller Risse und Löcher waren. Sie löste ihren Haarknoten, entfernte die Holzsplitter, die sich darin verfangen hatten, und versuchte dann, es zu bürsten. Das mit den Haaren nahm sie den Barrani wirklich übel.
Als sie ihre Ärmel zuknöpfte, hielt sie inne und krempelte sie zuerst hoch, um sich die Zeichen auf ihren Armen genau anzusehen. Eines Tages würde sie sie lesen können.
Sie fragte sich, was dann passierte, ob es sie umbringen würde oder ob die Zeichen einfach verschwinden würden, weil ihre Geschichte endlich erzählt war.
Ein Klopfen unterbrach ihre Selbstbetrachtung. Sie knöpfte ihre Ärmel eilig zu und brüllte dann die Tür an. Sie öffnete sich.
Lord Nightshade stand im Türrahmen. Auch wenn er es nicht gewöhnt war, durch eine geschlossene Tür hindurch angeschrien zu werden, veränderte sich dadurch die Freundlichkeit seines Verhaltens keineswegs. Andererseits würden das wahrscheinlich auch Messer nicht schaffen. “Du wirst zu spät kommen”, sagte er ruhig, “solltest du nicht bald aufbrechen. Ich habe bereits gegessen. Du kannst dir etwas mitnehmen.”
Sie nickte, holte ihre das Auge beleidigenden Schuhe, und schob ihre Füße hinein, ehe sie die Senkel verknotete.
“Kaylin.”
Sie blickte auf.
“Du hast geträumt.”
Und senkte sofort ihren Blick wieder. Falls sie viel träumte, erinnerte sie sich normalerweise nicht, und das nahm sie in Anbetracht ihres Lebens als Plus.
Doch er bewegte sich nicht, und nachdem sie damit fertig war, ihre Schuhe anzuziehen, ging sie zu ihm hinüber. “Habe ich gesprochen?”
Er nickte.
“Auf Elantranisch?”
“Nein. Und das war das
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