Kaylin und das Geheimnis des Turms
auf, ohne darüber nachzudenken oder es zu wollen. Jede ihrer Bewegungen war instinktiv.
Doch die Hände, länger und mit deutlicher ausgeprägten Nägeln, veränderten sich nicht weiter. Lord Sanabalis war immer noch … Lord Sanabalis. Sie hatte zweimal gesehen, wie ein Drache sich entfaltete, wie er nicht einmal mehr so tat, als hätte er etwas Menschliches an sich, und sie war nicht scharf darauf, die Erfahrung zu wiederholen.
Mit wackligen Beinen erhob sie sich und bemerkte, dass sie einen Dolch gezogen hatte. Gegen einen Drachenlord. Aber der intensive rote Blick des Drachenlords wankte nicht, und ihre Augen wurden von seiner Mitte angezogen. Von Hitze, von Wut, von einer Flamme, die über Tod und Schmerz erhaben war und nur das Verzehren als einzige Erlösung kannte.
Und im Herzen dieser Augen glaubte sie, flackernd und unstetig, den Umriss von Buchstaben zu sehen. Als ob dort ein Wort geschrieben stünde und es endlich aufgedeckt worden war.
Nicht Form, dachte sie verzweifelt.
Der Drache hatte sich nicht bewegt.
Nicht die Form der Flamme. Nicht die Gestalt der Flamme.
Ihr
Name
. Sie hielt diese sich bewegenden Runen fest, versuchte sie anzuhalten, versuchte sie in eine Form zu bringen, die sie aussprechen konnte. Aber sie waren ihr so fremd wie die Runen auf dem Kerzenteller. Sie waren keine Sprache, die sie kannte.
Und doch … erkannte sie Sprache, Teil einer Sprache. Etwas Altes. Alt…
Ohne nachzudenken, griff sie nach ihrem Handgelenk, es war frei. Sie hatte die Armschiene nicht zurückbekommen, sie war nicht gefangen, nichts hielt sie zurück.
Sie schob ihre Ärmel hoch, während Lord Sanabalis sie ansah, und sie glaubte, er wäre … zusammengezuckt. Aber die Augen starrten unverändert, und das war alle Anleitung, die sie brauchte.
Ihre Lippen hörten auf, sich zu bewegen.
Sie bewegten sich nie, wenn sie einen
Namen
benutzte.
Denk, Kaylin. Denk. Nein. Denk
nicht
.
Sie stützte ihre Handflächen auf den Tisch und erhob sich vom Boden. Sie zwang sich, sich zu bücken, den Stuhl aufzuheben. Mit zitternden Händen stellte sie ihn ab, Sanabalis gegenüber, dem Mann, von dem sie nie wieder vergessen würde, dass er ein Drache war, solange sie lebte.
Und sie sprach das Wort.
Aus der Luft über der Kerze loderte Feuer. Feuer umtanzte den Docht. Es hätte Wachs und Fleisch schmelzen sollen. Es hätte Tisch und Stühle – und Kaylin – in Flüssigkeit oder Asche verwandeln sollen.
Aber das tat es nicht. Es schwebte über dem rostroten Wachs, dem gelben Docht, und als das Wachs die Hitze annahm, die Flamme in sich selbst aufnahm, begann es zu leuchten, als läge Gold in seinem Herzen.
Und dann wurde die Kerze selbst rot und hell, als sie das ganze Feuer sich einverleibte. Für einen Augenblick war Kaylin blind. Alles, was sie sehen konnte, war dieser kleine, tanzende Fleck Flamme, diese brennende Kerze. Sie bemerkte nicht sofort, dass im Kristall, der neben der Kerze lag, jetzt ein Herz aus rotem Licht leuchtete. Aber sie sah es, sie war schließlich ein Falke.
Die Augen des Drachen wurden langsam orange, aber es war eine tiefe, heiße Farbe. Er hob seine unteren Lider, um Kaylin vor dieser Farbe zu beschützen.
“Geschafft”, murmelte er. Müde. “Ich gratuliere dir, Kaylin.”
“Heißt das, ich habe bestanden?”
“Das heißt”, sagte er, so leise, dass sie sich anstrengen musste, seine Worte zu verstehen, “dass du eine Chance hast, zu überleben.” Er löschte das Feuer mit einer Handbewegung.
“Und ich brauche keinen Lehrer?”
Sein Lachen war ein Brüllen. “Du brauchst viel mehr als das, Kaylin Neya. Du wirst noch eine ganze Zeit nicht von meiner Anwesenheit befreit werden.”
“Dann …”
“Aber du wirst”, fuhr er fort und stand dabei auf, “das Zeichen des kaiserlichen Ordens der Magier tragen.”
9. KAPITEL
D ie Worte ergaben keinen Sinn. Und weil sie so sinnlos erschienen, konnte man sie einer Kategorie zuordnen, die Kaylin auch zu den besten Zeiten ein ungutes Gefühl gab.
“Das ist eine politische Sache, oder?”
“Im weitesten Sinne”, antwortete Sanabalis kühl, “ist alles politisch.”
“Das hier ist politisch, wie Kriege politisch sind.”
“Ah ja. In diesem Sinne. Jedenfalls beinah.” Er griff nach der Kerze. Sie sah für einen Augenblick nur eine Fassade aus Wachs und fragte ihn nichts mehr. Sie war sich des Kristalls an seiner Seite immer noch bewusst. War sich im Klaren, dass sie bereits zu viel gesagt hatte. Sein Nicken, wenn auch
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