Kaylin und das Reich des Schattens
meisten sterblichen Rassen konnten nicht gut Leontinisch sprechen lernen, weil ihnen die Stimmbänder dazu fehlten – aber sie benutzte es dennoch, weil Marrin aussah, als würde sie auf nichts sonst hören.
“Marrin”, sagte sie, hielt beide Hände mit den Handflächen nach außen nach oben und streckte ihren Hals und legte ihre Kehle frei. “Ich bin wegen deiner Jungen hier.”
Marrin knurrte.
In dem Geräusch steckten Worte, aber Kaylin musste erst nach ihnen suchen.
“Ich weiß.” Sie hielt ihr Leontinisch so ruhig und einfach wie möglich. Das Erste war schwer, das Zweite dringend notwendig. “Die Vögel sind in der Luft. Die Magier sind auf der Erde. Die Wölfe jagen.” Sie hielt inne, ehe sie hinzufügte. “Wo ist der Rest deines Rudels?”
Die Frage schien Marrin zu beruhigen – falls ruhig auf eine Situation wie diese zutreffen konnte. “Oben”, sagte sie zu Kaylin. “Der Drache bewacht sie.”
“Und ihre Zähne?” So fragte man auf Leontinisch nach der Gesundheit. Wenigstens war es alles, was Kaylin einfiel.
“Schneidend”, fauchte Marrin zurück. Aber sie zog sich zurück, und auch wenn ihr Fell sich nicht legte, so zwang sie sich doch, ihre Hände zu senken. “Kaylin,
wo ist Catti
?”
Mit Wut konnte Kaylin umgehen. Sie hatte ihr ganzes Leben damit zugebracht. Aber das hier war schlimmer. Ohne nachzudenken tippte sie auf die Schiene, die ihren Arm gefangen hielt. “Ich weiß es nicht”, flüsterte sie, für den Augenblick in ihrer Muttersprache, ehe sie sich wieder mit dem ungelenken Knurren des Leontinischen herumschlug. “Aber wir werden es gleich herausfinden.”
Marrin sperrte die Augen weit auf.
Kaylin hasste es, ihr Hoffnung zu machen. Hasste es, und musste es – denn wenn sie es nicht konnte, gab es keine mehr, und das war schlimmer. “Ich muss mit dem Drachen sprechen”, fügte sie leise hinzu.
Marrin drehte sich um und sprang die Treppe hinauf, vier Stufen auf einmal, ihre Schritte so weit wie die eines Löwen, und nicht der zweibeinige Gang, den die Zivilisation ihr abverlangte. Kaylin folgte so schnell sie konnte, aber Marrin war schon auf dem Absatz angekommen, ehe Kaylin die halbe Treppe geschafft hatte.
Ihr Brüllen musste auf der Straße zu hören gewesen sein. Kaylin blieb für einen Augenblick wie angewurzelt stehen, aber dann wurde es von einem tieferen, hallenderen Knurren beantwortet, und Kaylin, immer noch wie versteinert, wusste, dass sie zum ersten Mal im Leben die wahre Stimme eines Drachen gehört hatte.
Sie fragte sich, ob die Kinder weinten, oder ob auch sie von etwas versteinert waren, das fast noch ursprünglicher war als die Angst selbst.
Tiamaris kam ihr entgegen, als sie endlich ihre Beine wieder in ihre Gewalt gebracht hatte und den Absatz der Treppe erreichte. Er war in die gleichen Roben gekleidet, die er immer trug, und das Wappen der Falken – das ihr jetzt verweigert war – glitzerte auf seiner Brust. Aber seine Augen waren rot, und die inneren Lider waren alles, was sie davon abhielt, in Flammen aufzugehen. So schien es jedenfalls für Kaylin Neya.
Sie begann ohne Umschweife. “Ich bin zu Lord Nightshade gegangen.”
Die Drachenaugen veränderten sich. Was auch immer in ihnen gebrannt hatte, verlor sein Feuer und seine Hitze, als er ihr ins Gesicht sah, und auf das Zeichen, das sie auf der Wange trug. Minuten verstrichen, in denen sie wartete, die Hände absichtlich fest an ihre Seiten gepresst, ihre Kehle immer noch leicht entblößt.
Doch als er antwortete, sprach er in seiner normalen Stimme. Es war das Einzige an ihm, das normal war, und sie nahm an, dass es ihn viel kostete. Alles war heutzutage teuer.
“Was hast du ihm gesagt?”
Das war nicht die Frage, die sie erwartet hatte. “Ich habe ihm
nichts
von den Findelhallen erzählt”, fuhr sie ihn an. Hätte sie die Augen jeder anderen Rasse, hätten sie augenblicklich die Farbe gewechselt.
Er streckte eine Hand aus, und sein Gesicht glättete sich, bis es wieder so frustrierend neutral aussah wie sonst. Frustrierend und doch vertraut. “Ich mache dir keine Vorwürfe, Kaylin. Der Koloniallord steckt nicht hinter diesen Dingen.”
Sie schluckte und hatte den Anstand, eine Entschuldigung zu murmeln. “Warum hast du gefragt?”
“Weil er nur wenig von sich preisgibt, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, und in der Vergangenheit ist es seine Art gewesen, Informationen auszutauschen – falls er die Informationen hat, nach denen du suchst.” Er runzelte die
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