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Kaylin und das Reich des Schattens

Kaylin und das Reich des Schattens

Titel: Kaylin und das Reich des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
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tun war. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um nicht zu stolpern oder hinzufallen. Sie gab alles, verkürzte ihre Schritte nur so lange wie nötig, während ihre Schenkelinnenseiten schon brannten.
    Es gab Severn die Zeit, aufzuholen, Zeit, ihre Schulter zu berühren, aber keine Zeit, zu sprechen. Das würde er auch nicht tun. Sie drehte sich um, um ihn anzusehen, und er las alles, was er wissen musste, in ihrem verzerrten Gesichtsausdruck.
    “Vier Ecken”, sagte er, aber es ergab keinen Sinn für sie. Doch er sprach mit Tiamaris, und der Drache knurrte seine Antwort. Seine Stimme war nur der Schatten seines Fauchens, doch voller und stärker als seine normale Sprechstimme. Wie viel verbarg ein Drache, wenn er durch die Straßen der Stadt ging?
    Und wie viel verbarg sie?
    Sie rannte weiter, sie atmete weiter. Das Atmen fiel ihr schwerer. Selbst Severn glänzte vor Schweiß, und er war ein Wolf – daran gewöhnt, durch die Straßen der Stadt zu rennen. Daran gewöhnt, durch
diese
Straßen zu rennen, wahrscheinlich als Einziger unter den Wölfen.
    Doch die Straßen wurden kürzer, und statt mit Steinen gepflastert waren sie übersät mit Löchern und Rillen aus getrocknetem Schlamm und festgefahrenem Heu. Es war eine der älteren Straßen der Kolonie. Sie konnte sich nicht an ihren Namen erinnern und versuchte es auch nicht. Denn sie sah auf und erblickte endlich das Gebäude, von dem sie wusste, dass sie es betreten musste.
    Es war von schwarzen Toren umgeben. Rost drang durch die Lücken in der seltsam glänzenden Farbe, und es dauerte nur einen Augenblick, bis sie merkte, dass es gar kein Rost war. Sie fluchte.
    “Wachturm”, sagte Severn, und es klang auf seinen Lippen wie ein schlimmerer Fluch als ihrer. “Der Eingang ist auf der anderen Seite”, sagte er zu Tiamaris.
    “Wir haben keine Zeit!”, rief Kaylin.
    Tiamaris sah erst Severn an, dann Kaylin. Seine Augen leuchteten jetzt rot, eine tiefe, brennende Farbe, die sein inneres Lid nicht verdeckte. Sie hatte ihn so noch nie gesehen.
    “Aus dem Weg”, befahl er ihr.
    Sie gehorchte ohne nachzudenken und fragte sich, ob in seinen Worten ein magisches Kommando gelegen hatte. Oder wie man so etwas sonst nannte. Für eine Minute wünschte sie sich wirklich, eine bessere Schülerin gewesen zu sein.
    Der Drache streckte seine Hände aus, griff nach den dicken Eisenpfosten und spannte seine Muskeln an. Kaylin wartete, weil sie dachte, dass er sie weit genug auseinanderbiegen würde, um ihnen Einlass zu gewähren.
    Sie hatte sich geirrt.
    Er
riss
sie aus ihrer Verankerung, und mit ihnen das ganze Zaunstück. Das Rennen hatte ihn nicht außer Atem gebracht, und diese Anstrengung entlockte ihm kaum ein Schnaufen. Aber er tat es wirklich, und sie sah, wie sich die Muskeln in seinen Händen abzeichneten wie gemeißelt. Sein Gesichtsausdruck war wie aus Stein. Rotem Stein.
    Sie war dankbar, dass sich die Straßen bereits geleert hatten, weil jeder, der in der Nähe gestanden hätte, unter dem Zaun begraben worden wäre, der nur ein kurzes Stück hinter ihrem Rücken auf die Straße aufschlug und wahrscheinlich die wenigen Pflastersteine, die der alten Straße noch blieben, zerschmetterte.
    Nicht, dass das ein Verlust war. Sie waren in den Kolonien, und das Gesetz zählte hier einen feuchten Kehricht.
    Sie rannte über die neu aufgeworfene Erde und stolperte fast, als sie die Verankerungen im Boden bemerkte. Sie waren aus Ebenholz. Ebenholz bedeutete Magie. Wenn ihr nur eine Minute Zeit geblieben wäre, sie hätte sich von Tiamaris beeindruckt gezeigt.
    Aber die Schmerzen hatten ihren Höhepunkt erreicht, und auch wenn sie andauerten, sie wusste, was geschehen würde, wenn sie endlich am Ende ankamen. Sie wusste auch, dass es nicht mehr lange dauern würde.
    Sie spürte Cattis Angst, und einen Augenblick lang befand sie sich wieder in der Findelhalle, in ihrer heilenden Trance – so eng an das Leben des jungen Mädchens gebunden, dass sie ihre Gefühle nicht voneinander trennen konnte: Ihre Angst war eins.
    Und zwischen ihnen stand eine Wand.
    Alter Stein, glatt, zerfurcht – vielleicht – von Jahren des Efeuwuchses. Es gab keine Fenster. Hatte es nie gegeben. Sie hatte sich immer gefragt, warum er der Wachturm genannt wurde.
    Aus schmerzlicher Ferne hörte sie Severn vom Tod sprechen, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. “Das Pförtnerhaus ist auf der anderen Seite.”
    Nein. Keine Zeit. Im Pförtnerhaus gab es mit Sicherheit Wachen. Und selbst wenn nicht,

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