Kaylin und das Reich des Schattens
sollen, weil keine Lüge darin lag, und kein Zweifel daran, dass er es konnte.
“Severn”, sagte sie mit belegter Stimme. Weil sie den Tränen nahe war und anders nicht mehr sprechen konnte.
Sie war sich nicht sicher, was sie erwarten sollte, als Severn sie im Vorhof der Findelhalle traf. Marrin versperrte ihm den Weg. Ihr Fell stand senkrecht.
Tiamaris hielt ihren Arm so fest, dass es Spuren hinterlassen würde, doch das war nicht nötig. Jeder Atemzug – jede Bewegung – verging ihr, als sie Severn in die Augen sah. Sie waren dunkel und umschattet, und auf seinem Kinn waren Stoppeln zu sehen, die ihm eine saftige Strafe eingebracht hätten, wäre er zu offizieller Uniform verpflichtet. Er trug ein Kettenhemd unter dem Mantel der Falken, er war für den Bodendienst angezogen, ein Schwert an seiner Hüfte, und, wie er es gewohnt war, eine lange Kette darum.
Er sah ihr in die Augen und zuckte zusammen. Das hatte sie nicht erwartet. Sie konnte auch nicht sagen,
was
sie erwartet hatte. Aber als sie den Mund öffnete, hob er eine Hand und blieb auf Distanz.
“Ich habe deine Ausrüstung mitgebracht”, sagte er ruhig, und sie sah, dass er einen Beutel über der linken Schulter trug.
“Es ist mir verboten, sie zu tragen.”
Er sah zu Tiamaris. “Deine Entscheidung.”
“Trag sie.”
“Letztes Mal, als ich nachgesehen habe, warst du noch nicht Lord der Falken.”
“Dennoch werde ich die Verantwortung für deinen Ungehorsam übernehmen.” Er hob eine Drachenbraue und sah zu Severn. “Hast du den Quartiermeister bestochen?”
“Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, mit ihm zu sprechen”, entgegnete Severn. Das Zucken seiner breiten Schultern machte ein Geräusch, das von dem Beutel kaum gedämpft wurde. “Er hatte etwas anderes zu tun – die Reserven erfordern den Großteil seiner Zeit. Und seien wir ehrlich, es gibt nicht viele Falken ihrer Größe. Es war nicht schwer, ihre Ausrüstung zu finden. Gehen wir zu Nightshade?”, fügte er hinzu, den Blick immer auf Tiamaris gerichtet.
“Das kommt darauf an”, antwortete Tiamaris gelassen. Er wendete sich an Kaylin.
“Ich weiß es nicht”, flüsterte sie.
Marrin, die immer noch zwischen Severn und Kaylin stand, blickte zurück. Ihre Lippen waren über gebleckten, gelblichen Fangzähnen zurückgezogen. Das musste man Severn lassen, dachte Kaylin, er war nicht einmal angespannt.
“Ich kann Catti finden”, sagte Kaylin in den harten, schallenden Tönen der Leontiner zu ihr. Sie schob Tiamaris’ Hand von ihrer Schulter. Er ließ sie los. “Ich kann sie zurückbringen, Marrin, sie ist auch ein Teil meines Rudels.”
“Ich gehe mit dir.”
“Das kannst du nicht”, fuhr Kaylin fort, mit viel mehr Sicherheit in der Stimme, als sie gegenüber Marrins Verfassung spürte. “Weil ich nicht bleiben kann, und niemand sonst kann die Kinder so beschützen wie du. Sie brauchen dich hier, bis alles vorbei ist. Sie haben nur dich.” Es war ein Tiefschlag. Aber sie hatte bei den Falken gelernt, dass man die Waffen, die man hatte, schnell und so geschickt wie möglich einsetzen musste, sobald man eine Waffe brauchte.
Marrin zögerte nicht. Sie ging aus dem Weg und ließ Severn vorbei. Aber als er an ihr vorbeiging, fügte sie – mit dem ersten Anzeichen von Humor – noch etwas hinzu. “Bitte, keine weiteren Kämpfe in den Findelhallen.”
Kaylin lachte. Aus reiner Hysterie.
Severn lachte nicht. Er gab Kaylin den Beutel. “Zieh deine Rüstung an”, sagte er, ehe sie ein Wort herausbringen konnte. “Die ganze.”
Sie war sich Severns Anwesenheit deutlich bewusst, als sie die Findelhallen verließen, sie konnte nicht anders. Er ging auf ihrer Linken und Tiamaris auf ihrer Rechten. Das Licht der Sonne hatte sich gesenkt, sie hatten Zeit damit verschwendet, zu reden, und die Schatten auf dem Boden waren länger geworden. Das heißt, so viel unbebauten Boden es eben gab.
Severn und Tiamaris trugen die vollständige Uniform der Falken. Sie fragte sich, ob sie sich die Zeit nehmen würden, sie abzulegen, wenn sie die Gabelung von Old Nestor und der Brücke über den Ablayne erreicht hatten. Bisher waren sie noch nicht als Falken in die Kolonien gegangen – nicht als Diener irgendeines der Gesetzeslords. Doch als ihr dieser Gedanke kam, blickte sie auf und sah die Aerianer am Himmel ihre Bahnen ziehen.
Caitlin, die nie zu Übertreibungen neigte, hatte sich zu einer Untertreibung hinreißen lassen. Es schien, als wäre die südliche Stadtgrenze
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