Kaylin und das Reich des Schattens
mitmachen.
Der Halbkreistritt war ihr langsamster, aber auch ihr höchster. Sie schwang ihr Bein in die Luft und traf einen Unterarm. Er brach nicht, aber er verdrehte sich, und der Barrani, der daran hing, drehte sich mit. Severn benutzte immer noch sein Schwert, und kleine Stücke von Barranileichen häuften sich um sie herum an, aber die Körper, an denen sie nicht mehr hingen, kamen immer weiter nach.
Und dann sah sie bronzenes Licht, den großen, dreieckigen Kopf eines Drachen, und sie lächelte. Nicht einmal der Gestank des Todes, der an seinem rauchigen Atem hing, konnte seine bedrohliche Schärfe mildern.
Der Drache schnappte zwei der vier, und nachdem er sie zur Seite geschleudert hatte, sprach er. Irgendwo in dem Getöse, das einer so großen Kehle entspringen musste, hörte sie den Befehl.
“Bring das Kind hier raus.
Sofort
.”
Severn stand immer noch zweien von ihnen gegenüber, sie selbst konnte sich frei bewegen. Konnte tun, was bis dahin ihr einziges Begehren gewesen war. Sie zögerte. “Verdammt,
mach schon
”, sagte Severn, und dieses Mal, da seine Lippen nahe genug an ihrem Ohr waren, um mit der Stimme des Drachen zu verschmelzen, gehorchte sie.
Sie beugte sich nieder, nahm Catti in die Arme und rannte auf den Drachen zu. Catti hätte gelähmt sein sollen vor Angst, aber das war sie nicht. Ihre Arme waren an den Handgelenken gefesselt, doch sie versuchte trotzdem, sie Kaylin um den Hals zu schlingen.
Kaylin schüttelte den Kopf. Catti war nicht das Kind, an das sie sich zuerst während der Trance und dann während der Heilung erinnert hatte. Sie war schwer. Sie war zwölf, genau im richtigen Alter. Im falschen Alter.
“Es tut mir leid”, murmelte sie, als sie das Mädchen umdrehte und sich wie einen Sack über die Schulter warf. Das Gewicht brachte sie aus der Balance, sie konnte auf keinen Fall gleichzeitig kämpfen und das Mädchen tragen.
Aber das musste sie auch nicht. Sie strich an den harten Schuppen des Drachen vorbei und hielt nur eine Sekunde an, weil sie sehen konnte, wo sie aufgerissen waren, gesprungen, oder gespalten.
Aber er war ein Falke. Kaylin war ein Falke.
Und Catti war einer der Menschen, zu dessen Schutz die Falken ins Leben gerufen worden waren. Es gab keine Wahl. Sie verließ den Turm durch den Eingang, den ihre Macht geschaffen hatte, und trat hinaus in das volle, blendende Licht der Sonne.
Severn war zwei Schritte hinter ihr und schob sie fast aus dem Weg. “Lauf zu den Toren!”, rief er, und sie nickte, Catti immer noch über der Schulter. Als sie stolperte, fluchte er. In Koloniesprache, dem Dialekt, der jeden Bewohner der oberen Stadt die Nase rümpfen ließ.
Er nahm Catti von ihrer Schulter, und sie ließ ihn. Sie blieb nur lange genug stehen, um dem Mädchen einen Blick zu schenken, der Trost spenden sollte.
Doch er schmolz.
Auch die Steine schmolzen.
Hinter ihnen, im Wachturm, hatte Tiamaris von der Kaste der Drachen die gefürchtetste seiner Waffen losgelassen: Sein Feuer.
Severn zog sein Hemd aus und gab es Kaylin. Es war eine furchtbar blutige Sauerei und ließ ihre Wäscheberge daneben strahlend weiß aussehen. Aber sie wusste, wofür er es ihr gegeben hatte. Sie durchtrennte schnell die schweren Seile, die Cattis Arme fesselten, und massierte das Blut zurück in ihre Handgelenke.
“Zieh das an”, sagte sie leise und zog Catti das Hemd über den Kopf. Es verfing sich an ihrem roten Haarschopf und fiel wie ein ungünstig geschnittenes Kleid über ihre Schultern.
Sie durchtrennte auch die Seile an den Füßen und half Catti, aufzustehen. “Wir sind in den Kolonien”, sagte sie dem Findelkind. “In der Kolonie Nightshade.”
Cattis dunkle Augen waren geschwollen und aufgerissen zugleich. “War das ein Drache?”, flüsterte sie.
Kaylin nickte.
“Cool! Du hast einen Drachen!”
“Catti, er
gehört
mir nicht. Er ist ein –”
“Falke”, sagte Severn leise. “Und während du mein Hemd trägst, bist du es auch.”
Das Mädchen sah den Fremden mit gerunzelter Stirn an, und Kaylin war auf einmal unglaublich froh, dass Catti sie nicht vor der Findelhalle miteinander hatte kämpfen sehen. “Was meinst du?”
“Sieh dir deine Brust an”, sagte er. Und dann, mit einem komischen Stirnrunzeln, “oder eher deine Taille.”
Dort sah sie, genau an der Stelle verletzt, wo auch der Drache verletzt war, das Gold gebrochen und rot von getrocknetem Blut, das Emblem des jagenden Falken auf graublauem Grund. Auch gebrochen hatte es noch
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