Kaylin und das Reich des Schattens
einer Dreizehnjährigen. Eines Kindes.
“Sag mir nicht, wohin ihr geht. Wenn ich mich nicht irre, bist du gebunden.” Er sah auf ihre aufgesprungene Handfläche und stieß seinen Atem in einem Seufzer aus, der wie ein Knurren klang. Es war ein tröstliches Geräusch, oder wenigstens war es so gemeint. Wenn man einen Leontiner kannte. Diesen kannte sie.
“Aber ich kann es mir denken”, fügte er grimmig hinzu. “Komm. Der Quartiermeister hat mir alles geliefert, was du angefordert hast.”
“Ich habe aber gar nichts –”
“Der Falkenlord begreift, wohin ihr geht”, sagte er ruhig. “Und er war darauf vorbereitet. Er war glaube ich, nicht darauf vorbereitet, den halben Tag zu verlieren. Er ist ungeduldig und hat deinen Lohn gekürzt.”
“Bastard”, flüsterte sie, aber ohne es zu meinen.
Er fuhr mit der Hand über ihren runden Rücken. Als ob sie zu ihm gehörte, Teil seines Rudels. “Ich habe dir das hier mitgebracht”, sagte er, als sie sich endlich aufrichtete. Ihr war immer noch flau im Magen.
Sie wusste, was er für sie hatte.
Es sah wie eine Armschiene aus, nur kürzer, und leuchtete golden. In sie waren drei Edelsteine eingelassen, die für das ungeübte Auge wertvoll aussahen: Rubin, Saphir und Diamant.
Aber Kaylin wusste, dass sie noch mehr waren. “Ich werde die Kontrolle nicht verlieren”, setzte sie an.
Seine Augen waren so schmal, wie es ging. “Das war keine Bitte, Kaylin. Ich weiß, wohin ihr geht.”
“Er hat es dir gesagt?”
Er rümpfte die Nase, als er auf die Schweinerei um ihre Füße herum hinabsah. Und auf ihnen.
“Oh.”
“Leg es an”, befahl er ihr mit einer Stimme, die keinen Widerstand duldete. Mit der Stimme eines Hauptmanns.
“Marcus –”
“Leg es an, Kaylin. Und wenn ich du wäre, würde ich es für eine ganze Weile nicht ablegen.”
Sie nahm die Armschiene aus seinen Händen und starrte sie an. Sie hatte scheinbar kein Scharnier, aber auch das war nur eine Illusion. Sie berührte die Edelsteine in einer Reihenfolge, die ihre Finger nie vergessen hatten: Blau, blau, rot, blau, weiß, weiß. Sie spürte den vertrauten und schmerzhaften Schub der Magie und hörte zur gleichen Zeit das unverwechselbare Geräusch einer Käfigtür, die sich öffnete.
“Hat er dir befohlen, mich dazu zu zwingen?”, fragte sie bitter.
“Nein, Kaylin. Ich glaube, er vertraut darauf, dass du deine eigenen Grenzen kennst.”
“Und du?”
“Ich auch”, sagte er leise. Aber er wartete, bis sie die Schiene über ihren linken Arm geschoben hatte. “Soweit du sie kennen kannst, vertraue ich dir auch.”
“Was soll das heißen?”
“Du weißt, was das heißt.”
Das tat sie. “Ich – ich habe die Kontrolle nicht mehr verloren seit –”
“Damals warst du nicht in den Kolonien.” Er schwieg einen Augenblick und fügte dann noch etwas hinzu. “Kaylin, deine Gabe – niemand versteht sie. Nicht einmal der Falkenlord. Er hat darüber geschwiegen. Ich ebenfalls. Er ist der einzige der Lords der Gesetze, der weiß, was geschehen kann, wenn du die Kontrolle verlierst. Und er ist auch der Einzige, der es wissen sollte.”
Sie schloss die Augen. “Der Falkenlord –”
“Vertraut dir. Mehr noch, er scheint dich zu mögen. Ich lerne langsam, seine Weisheit zu begreifen. Auch wenn du nicht einmal um dein eigenes Leben oder meinen Ruf zu retten pünktlich sein kannst.” Dann wendete er sich ab. “Lass die Schweinerei. Ich schicke jemanden her, um sauber zu machen.”
Sie bewegte sich immer noch nicht.
Und hörte sein knurrendes Seufzen. Er drehte sich wieder um. “Was du mit Sesti getan hast, und mit einem meiner eigenen Weibchen, ist nichts, was der Falkenlord oder ich je hätten voraussehen können.”
“Sesti war –”
“Kaylin. Du wärest nicht zu Sesti gegangen, wenn du geglaubt hättest, sie könnte die Geburt aus eigener Kraft überleben. Du hättest es nie gewagt, gesehen zu werden. Du bist verdammt vorsichtig gewesen. Das musstest du sein. Aber du hast sie gerettet, und auch ihren Sohn. Du hast
meinen
Sohn gerettet. Ich würde dich nicht zwingen, die Schiene zu tragen, wenn ich glauben würde, dass du dort, wo du hingehst –”
Sie hob ihre Hand. “Sie ist dran, Marcus”, sagte sie müde.
Das Letzte, worüber sie nachdenken wollte, war ihre Gabe.
Weil sie über die Jahre festgestellt hatte, dass sie immer, immer einen Preis hatte, und irgendjemand musste ihn bezahlen.
3. KAPITEL
“D u bist eine Stunde zu spät”, fuhr Severn sie
Weitere Kostenlose Bücher