Kaylin und das Reich des Schattens
etwas zu fragen.
Sie schrie, als man sie von der Säule wegzog, und später konnte sie sich trotz der Schmerzen nicht mehr erinnern,
warum
. Severn hatte eine Hand in ihre Hand gelegt – seine Finger waren weiß, weil sie ihnen das Blut abdrückte – und eine auf ihren Oberarm. Sie blutete.
“Er hat den Fehler gemacht”, sagte Lord Nightshade und verzog dabei das Gesicht, “deinen Oberarm zu berühren, während du mit dem Alten … gesprochen hast.”
Severn lachte. “Den Fehler haben zwei Leute begangen, Lord Nightshade.” Kaylin dachte, wie durch einen Nebel, dass sie zum ersten Mal hörte, wie er Barrani mit diesem Tonfall benutzte. Als wäre es seine Muttersprache, und nicht etwas, das man ertragen musste.
“Ich bin vor vielen Dingen geschützt, während ich über dieses Gebiet regiere”, entgegnete der Koloniallord, doch seine Stimme klang angespannt.
Kaylin blinzelte. Der Raum lag in Dunkelheit. “Sind die Zeichen verschwunden?”, flüsterte sie. Auch wenn es ihr sehr peinlich war, eigentlich krächzte sie. Wie der sprichwörtliche Frosch, nur noch schlimmer.
“Sie sind nicht verschwunden”, antwortete Lord Nightshade. Er half ihr auf die Füße. Erst seine Bewegung ließ sie merken, dass die beiden ihr ganzes Gewicht zwischen sich trugen. “Aber sie sind … verblasst. Kaylin, was ist geschehen?”
“Ich … weiß es nicht.” Sie schüttelte den Kopf. “Aber das können wir später noch herausfinden. Ich will –” Sie hielt inne. Sah auf ihre Arme. Zuckte zusammen. Sah sich den Rest an. Sie war vollkommen unbekleidet und an verschiedenen Stellen mit feiner Asche bedeckt. Es hatte keinen Sinn, zu versuchen, sich mit den Händen zu bedecken, ihre Hände steckten fest, und keiner der Männer, der sie hielt, schien es eilig zu haben, sie loszulassen.
Aber ehe sie sich in ihre Scham zurückziehen konnte – noch schlimmere Scham – richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf ihre Haut. Sie war von der Unterseite ihrer Brüste abwärts mit Zeichen beschrieben.
Und sie glühten schwach. Jeder breite Strich sah aus wie das Werk eines Kalligraphiemeisters. Die Mitte jedes Schriftzeichens war kristallblau, der Rand so schwarz, wie sie es bisher nur bei Catti gesehen hatte, und auch nur, als Catti unter den Klingen gelegen hatte.
Severn ließ sie als Erster los. Nightshades Hand blieb einen Augenblick länger, als vertraute er ihr nicht.
“Severn”, sagte sie mit der gleichen krächzenden Stimme, “sieht mein Rücken auch so aus?”
“Bis an den Nacken”, antwortete er.
“Wonach sieht es für dich aus?”
“Asche. Sie sind grau”, fügte er hinzu, “und anders als die Zeichen an deinen Armen.” Er schwieg einen Moment. “Was hat das zu bedeuten?”
“Woher zum Henker soll ich das wissen? Er hat gesagt, ich hätte Makel”, sagte sie zu beiden. Sie fühlte sich von den Mustern wie gefesselt, ihre Augen wurden von den geschwungenen Zeichen angezogen, und davon, wie sie sich bewegten, während ihre Brust sich hob und senkte. “Aber ich wäre alles, was sie haben.” Ihre Arme zitterten, ihre Finger waren ebenfalls weiß. Sie massierte sie, anscheinend reichte ihre Schamesröte nicht bis zu den Händen.
“Wir konnten dich fast nicht festhalten”, sagte Severn mit leiser Stimme zu ihr. Sie musste sich anstrengen, um alle Wörter zu hören, so leise.
“Ich habe dich gesehen”, flüsterte sie. “Ich habe gehört, wie du meinen Namen gerufen hast. Beide Namen”, fügte sie hinzu und wendete sich auch an Nightshade. “Es war – genug. Lord Nightshade, ich brauche ein großes Zimmer.”
“Nicht dieses.”
“Nein.
Nicht
dieses.”
“Und Kleidung?”
Sie fluchte. “Das auch. Hast du
irgendwas
Praktisches da?”
Die Antwort war ein deutliches “So halb.” Natürlich sagte er das nicht laut. Er sprach nicht in sterblichen Zungen, jedenfalls nicht in ihrer Anwesenheit, und sein Barrani war für ihren Geschmack etwas zu gestelzt und hochkastig. Er benutzte keine Umgangssprache. Er brachte ihr ein Hemd und Hosen – aber sie waren seidenweich, dünn und schmiegten sich an ihre Haut. Außerdem war auf ihnen kein Falkenemblem, und das vermisste sie wirklich.
Ihre Haare waren immer noch zusammengenommen, und in ihrem Gesicht befand sich zum Glück außer seinem kein weiteres Zeichen. Sie vermied die Spiegel in dem Zimmer, in das er sie geführt hatte, auch wenn es anstrengend war: Es war voll davon, alle höher als sie selber und – natürlich – äußerst elegant.
“Wie
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