Kaylin und das Reich des Schattens
diese Dinge zu berühren, es hielt die Schwerter nicht davon ab, geschwungen zu werden.
Barrani, dachte sie sofort, als sie die Männer sah. Das Feuer machte es möglich, zu unterscheiden, welche zu Nightshade gehörten und welche nicht. Diese Barrani waren schneller, als die in den Umhängen es gewesen waren. Es gab allerdings auch Gemeinsamkeiten. Beide schienen nicht zu merken, wenn sie ein Körperteil verloren, das keine Waffe schwang.
Sie zählte. Es war Teil ihrer Grundausbildung gewesen, Dinge zu zählen, die sich bewegten. Sie hatte bestanden, weil es eine praktische Fähigkeit war. Und weil sie bestanden hatte, war sie hier, in den Straßen einer Kolonie, in die sie sich geschworen hatte, nie zurückzukehren, und die Zahlen wuchsen in Höhen, die ihr absolut nicht gefielen.
“Severn?” Was Nightshades Barrani nicht konnten, konnten sie nicht einmal zu hoffen wagen, selbst zu erreichen. Und der Feind stand vor den einzigen Türen, die sie sehen konnte. Alle vier von ihnen. Der Kampf hatte sich noch nicht in den Eingang selbst erstreckt. Es gab zu viele von ihnen.
“Vor dir”, sagte er. “Sie können nicht den ganzen Block belagern. Welches Gebäude, Kaylin?” Alle Worte waren scharf und abgehackt.
Sie konnte es nicht sagen. Die Karte war ihr damals so verdammt deutlich vorgekommen, die Schatten so deutlich, dass es Kaylin nicht einmal eingefallen war, dass sie die Antwort nicht kennen könnte. Sie tat, was in den Kolonien ihre zweite Natur war, sie glitt zurück in die Schatten der Straße, die sie kaum verlassen hatten.
Denk nach, verdammt.
Denk nach.
“War Nightshade dort?”, fragte sie Tiamaris. Der Drache schüttelte den Kopf. “Okay. Nehmen wir den Hintereingang.”
“Hoffentlich gibt es einen.”
Mayburn Street war lang und schmal, und wie die meisten alten Straßen machte ihr Belag aus Steinen sie unebener statt glatter. Auf der Mayburn gab es einen Brunnen, einen halben Block hinter Triberry, der Straße, der sie gerade folgten. Hinter Mayburn und parallel dazu verlief Culvert Road – ein Name, der, wie so oft in den Kolonien, keine Bedeutung mehr trug.
Kaylin blieb am Brunnen stehen.
Für einen Brunnen war er in einem guten Zustand und wurde offensichtlich benutzt, was auch an der Jahreszeit lag, aber es war nicht Durst, der sie stehen bleiben ließ. Es war die Frau, die sich an den runden Steinwall lehnte. Wenigstens schien es so. Doch Kaylin war ein Falke.
“Lass sie”, sagte Tiamaris leise. “Sie ist tot.”
Kaylin hörte ihn, aber sie nahm sich nicht die Zeit, zu widersprechen. Sie veränderte ihre Gangart und bückte sich, bis sie fast auf dem Boden kauerte, als ob so etwas Simples wie ein Pfeil jederzeit aus den oberen Fenstern abgefeuert werden könnte. Sie erreichte die Frau zur gleichen Zeit wie Severn und zuckte zusammen.
Er sah sie an. Er wusste, was die Bewegung bedeuten konnte.
Die Frau
hätte
tot sein sollen. Aber sie war es nicht.
Wer auch immer sie erstochen hatte – und es war eine lange, saubere Wunde – hatte ihr Herz verfehlt. Das Blut, das ihr von den Lippen tropfte, verriet, dass andere lebenswichtige Organe nicht so viel Glück gehabt hatten. Ihre Hände waren rot und nass. Von einem gleichmäßigen Handschuh der roten Flüssigkeit überzogen.
Kaylins Arme bereiteten ihr Schmerzen. Allerdings nicht so viele wie der Anblick dieser Fremden, und ein Schmerz wurde vom anderen überwältigt. Sie legte ihre Arme um die Schultern der Frau und beugte ihren Kopf über das schlaffe Gesicht, als wolle sie es für einen Augenblick vor Zeugen beschützen. Schaulustigen.
Severn berührte ihre Schulter, aber er sprach nicht. Tiamaris bemerkte sie gar nicht mehr. “Kannst du das schaffen?”, fragte Severn leise. Sie wusste, was er meinte. Nicht das Leben retten, sondern danach selber noch funktionieren können.
Ehe sie antworten konnte – falls es eine Antwort gab – schlossen sich seine Finger kurz fester. So stellte er die Frage, die er nicht ausgesprochen hatte.
Könntest du sie einfach liegen lassen?
So nah am Gesicht einer anderen Person verschwamm ihr Blick. Kaylin musste ihre Augen nicht schließen. Sie spürte, wie die Macht ihre Arme hinunter in ihre Hände rieselte. Diese Hände drückte sie gegen Schultern und Brust. Die Frau war größer als Kaylin, aber so in sich zusammengekrümmt, dass der Unterschied nicht so sehr auffiel, als hätten sie versucht, sie zu bewegen.
“Sie hat viel Blut verloren.” Ihre Worte. Klinisch.
“Hier gibt es
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