Kaylin und das Reich des Schattens
in den Straßen. Es war noch nicht dunkel, aber sie waren dennoch verlassen. Sie fragte sich, ob die Barrani-Wachen sie geräumt hatten, oder ob die Menschen in diesem Teil der Stadt nur ungewöhnlich klug waren. Sie fragte nicht nach.
Die hohen, steinernen Gebäude um die Festung herum waren in besserem Zustand als die am Rand der Kolonien, aber sie standen immer noch eng zusammen, und sie fühlten sich immer noch alt an. So alt wie alles in den Außenbezirken der Stadt. Schatten bewegten sich hinter den Fenstern, oder vielleicht wurden nur Vorhänge zugezogen, die Bewegungen waren schnell, verstohlen, und konnten nur aus dem Winkel eines aufmerksamen Auges bemerkt werden.
Zwischen einigen dieser Fenster hielten Wasserspeier Wache wie Späher in der Höhe, in verwitterten Stein gehauene Fratzen, die glatten Flügel um sich gefaltet, die Klauen in ihre Steinsockel gekrallt. Sie hatte sich oft gefragt, ob diese Wasserspeier zum Leben erwachten, wenn das letzte Tageslicht verloschen war. Sie tat ihr Bestes, sich das nicht auch jetzt zu fragen. Denn im Schatten des Koloniallords schien das nur zu wahrscheinlich.
Die Straße, die in die Festung führte, war recht breit, eine Kutsche konnte es leicht bis zum Tor schaffen, bespannt mit vier – oder sogar sechs – Pferden. Aber das Tor selbst lag hinter einem Fallgatter, das Besucher abschrecken sollte.
Kaylin war auf jeden Fall abgeschreckt.
Sie drehte sich zu Tiamaris um, aber der blinzelte nicht einmal. Er nickte allerdings, um sie wissen zu lassen, dass er ihre plötzliche Bewegung bemerkt hatte.
“Willkommen”, drang die Stimme des Koloniallords leise zu ihr, “in der Nachtschattenburg.” Er trat vor, als sie das Tor erreicht hatten, und legte eine Hand an das Fallgatter.
Es bebte, aber es bewegte sich nicht.
“Folgt mir”, sagte er. “Bleibt nicht stehen. Zögert nicht, und zeigt keine Angst. Während ihr bei mir seid, seid ihr sicher. Denkt immer daran.”
Er sprach mit Kaylin in seinem tiefen Barrani, und auch wenn sie bisher nichts als Elantranisch gesprochen hatte, wusste sie doch, dass er wusste, dass sie ihn perfekt verstehen konnte. Andererseits war sie ein Bodenfalke, und alle Falken mussten Barrani sprechen, sonst durften sie nicht auf Patrouille gehen. Sie fragte sich gerade, warum sie das jemals für eine gute Idee gehalten hatte.
Es schien Kaylin außerdem so, als würde er
nur
mit ihr sprechen.
Sie nickte mit trockenem Mund.
Er trat vor und
durch
das Fallgatter hindurch. Als wäre es ein Schatten, nichts weiter als das. Kaylin atmete tief durch, sah sich nach beiden Seiten nach Unterstützung um, und tat es ihm dann gleich: Sie trat in das Tor hinein.
Es umschloss sie.
Sie schrie.
Als sie aufwachte, tat ihr Kopf weh, ihr Mund war trocken, und sie hätte wetten können, dass sie einen
großartigen
Abend mit Teela und Tain in der Bar am Ende der Straße gehabt hatte – wenn sie sich bloß daran erinnern könnte. Das hielt so lange an, bis sie merkte, dass ihr Bett viel zu weich war, ihr Zimmer viel zu groß, an der Tür gab es keine Riegel, außerdem hatte sie zugenommen, und ihre Fenster waren verschwunden.
Das, und sie war nicht allein.
Sie griff nach ihren Dolchen. Sie waren nicht da. Ihre Leder ebenfalls nicht. Oder ihre Tunika, oder ihr eines Paar Hosen, das noch nicht in Fetzen gegangen war.
Lord Nightshade stand in der Mitte des fast leeren Raumes. Auch wenn es keine Fenster gab, gab es doch ausreichend Licht, und es war sanft genug, um die Augen nicht zu reizen, und hell genug, um deutlich zu sehen. Der Boden unter seinen Füßen war aus Marmor und Gold, und er schien in der Mitte eines großen Kreises zu stehen.
“Du wirst mir vergeben”, sagte er und machte einen Befehl aus etwas, was für jeden anderen eine Entschuldigung gewesen wäre. “Ich hatte nicht erwartet, dass dein Übergang so … kostspielig sein würde. Deine Kleidung war für meine Hallen nicht angemessen. Sie wird dir wieder ausgehändigt werden, wenn du uns verlässt.”
Sein Wenn klang genauso wie ein Falls.
Sie war nicht nackt. Nicht richtig.
Aber ihre Arme waren bis zu den Schultern unbedeckt, und das
hasste
sie. Sie trug nie, niemals irgendetwas, das nicht bis zu ihren Handgelenken reichte, und das aus gutem Grund. Die breiten, klaren Linien aus schlingerndem Schwarz schienen sich an ihren Armen entlangzuschlängeln, während Kaylin sie betrachtete. Sie sah nicht lange hin.
Obwohl ihr schwindelig war, stand sie auf. Ihr Kleid – und es war
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