Kaylin und das Reich des Schattens
ein Kleid, mitternachtsblau, lang, zart und von schlichter Eleganz – stand mit ihr auf, als klebte es an ihrer Haut. Es fühlte sich angenehm an. Und dann auch wieder nicht.
Teela und Tain waren die Barrani, die sie am besten kannte, und die beiden kamen nie
so
angezogen zur Arbeit. Sie fragte sich deshalb, was sie in ihrer Freizeit so trieben. Was sie erröten ließ. Sie fragte sich, wer sie ausgezogen hatte, und das half auch nicht.
Der Koloniallord wartete ganz einfach ab und beobachtete sie, als wisse er nicht, was sie als Nächstes tun würde. Sie hob den linken Arm und sah, dass die Schiene ihn immer noch umschloss. Die Edelsteine blitzten in einer bestimmten Reihenfolge auf. Eine Warnung.
“Ja”, sagte er leise. “Das kam … unerwartet. Ich habe so etwas seit vielen, vielen Jahren nicht gesehen – vielleicht noch nie. Wo hast du es her?”
“Es war ein Geschenk.”
“Von Lord Grammayre?”
Sie nickte.
“Es kommt nicht von ihm. Nicht direkt.” Er trat aus dem goldenen Kreis, der in den Boden eingelassen war, und näherte sich ihr. Aber er tat es langsam, als ob sie ein wildes Tier wäre. “Es tut mir leid”, sagte er mit weniger Befehlston in der Stimme. “Aber ich wollte selber sehen, ob du die Zeichen trägst.”
“Und jetzt?”, fragte sie bitter.
“Jetzt weiß ich es. Wenn du Hunger hast, kannst du etwas essen. Ich werde dir Speisen bringen lassen. Diese Räume sind seit vielen Jahren kaum benutzt worden. Sie sind nicht für Gäste ausgestattet.”
“Wo sind meine – wo sind Severn und Tiamaris?”
“Es schien mir am praktischsten, sie zurückzulassen”, antwortete er ernst. “Aber ihnen ist kein Leid zugefügt worden, und sie wissen, dass auch dir kein Leid geschehen ist. Wenn sie klug sind, warten sie, wo sie sind.”
“Und wenn nicht?”
“Dies sind
meine
Hallen”, sagte er kalt. “Und nicht einmal ein Drache darf sie ungestraft betreten.”
“Aber er ist schon einmal hier gewesen.”
Der Koloniallord hob eine Braue. “Woher weißt du das, Kleines?”
“Man nennt mich nicht ‘klein’”, entgegnete sie. Sie wollte die Worte ausspucken, aber sie klangen in ihren eigenen Ohren nur bemitleidenswert.
“Und wie nennt man dich jetzt?”
“Kaylin. Kaylin Neya.”
Er hob seine andere Augenbraue und senkte sie wieder. “Interessant. Ja, du hast recht. Tiamaris hat die Langen Hallen tatsächlich schon einmal besucht. Wenn irgendwer sie ohne Einladung betreten könnte, dann wäre er es. Aber ich glaube, im Augenblick ist er damit zufrieden, abzuwarten. Er wird dafür sorgen, dass dein Severn am Leben bleibt.”
“Er ist nicht
mein
Severn”, sagte sie.
Und ich will ihn nicht lebendig.
Aber sie konnte diese Worte vor dem Koloniallord nicht laut aussprechen. Sie wollte nicht wissen, warum.
Er streckte eine Hand aus.
Sie versuchte es zu ignorieren, aber sie bemerkte, wie sie ebenfalls eine Hand hob. Als wäre das alles ein Traum. Er nahm ihre Hand. Seine Haut fühlte sich kühl an. Ihre war feucht.
“Dies sind die Hallen von Nightshade”, sagte er ruhig. “Komm. Ich möchte dir einiges zeigen.” Ohne ein weiteres Wort führte er sie aus dem Zimmer.
Sie hatte erwartet, dass die Türen auf einen Korridor führen würden.
So viel zu ihren Erwartungen. Sie führten in eine Art Wald. Sie hatte noch keine Wälder gesehen – nicht aus der Nähe. Sie hatte schon welche aus der Ferne gesehen, wenn Clint sie auf einen Flug zu den Horsten seines Volkes mitgenommen hatte. Hier, vor der Tür, wuchsen die Bäume hoch und immer höher, bis sie die Kuppeldecke erreichten, die sie durch das grüne Blattwerk kaum erkennen konnte.
Sie bewegte sich nur langsam vorwärts. Ihre Hand lag immer noch in der Gewalt des Koloniallords, aber er schien es nicht eilig zu haben. Warum sollte er auch? Wenn er es schaffte, sich nicht umbringen zu lassen, hatte er die Ewigkeit vor sich. Zeit bedeutete ihm nichts.
In dieser Art Wachtraum an seiner Seite schien die Zeit auch für sie fast nichts zu bedeuten. Kaylin berührte die raue Oberfläche der braunen Borke, und dann die weiche, silbrig weiße. Sie berührte die Blätter, die wie ein geknüpfter Teppich auf den Boden gefallen waren und wie ein sanfter Aufstand der Farben aussahen. Worte hatten sie verlassen, was aber nicht schlimm war. Sie kannte keine, die gut genug waren, um zu beschreiben, was sie sah.
Und wenn sie es doch täte, hätte sie es für sich behalten. Schönheit bedeutete ihr etwas, und das behielt sie für sich, wie
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