Kaylin und das Reich des Schattens
zu tragen – aber sie hatte es auch auf eine Art selbstverständlich gefunden, die sie jetzt nicht mehr nachvollziehen konnte. Holden kniff seine dunklen Augen zusammen. “Der Falkenlord erwartet dich”, sagte er schließlich und senkte seine Waffe. “Und du solltest lieber eine verdammt gute Erklärung für ihn parat haben.”
Sie nickte und ging durch das Tor. Oder vielmehr, Tiamaris ging und trug sie dabei. Severn schlenderte hinter ihnen her.
Als sie das Hauptbüro erreichte, sah sie überrascht, dass Marcus noch im Dienst war. Er war allerdings nicht überrascht, sie zu sehen, was Kaylin einen Blick voll unverhohlenem Misstrauen zu Tiamaris werfen ließ.
“Ich habe Nachricht geschickt”, sage er ruhig. “Ich habe einen der Spiegel in der Burg benutzt.”
“Aber die Spiegel in der Burg können doch unmöglich auf dich eingestimmt …” Sie sah seinen Blick und hielt schnell den Mund.
“Ihr habt sie da rausgeholt”, sagte Marcus, seine Worte kaum mehr als ein Knurren. Er war müde. Müder Leontiner war besser als wütender Leontiner – aber nur um Schnurrhaarbreite. Seine bebten.
“Kann man so sagen”, antwortete Tiamaris kühl.
Was auch immer zwischen dem Hauptmann und dem Drachen stand, dachte Kaylin, würde immer ein Problem sein. Aber dieses Mal ließ Marcus ihn ohne Kommentar passieren.
Severn allerdings blieb stehen. “Ich gehe nicht nach oben”, sagte er leise. “Ich warte hier auf dich.”
“Das kann dauern”, antwortete sie ohne viel Hoffnung. “Geh nach Hause.”
Er begegnete ihrem Blick und erwiderte ihn. Und sie erinnerte sich, dass sie Severn noch nie hatte sagen können, was er zu tun hatte. Oh, sie hatte ihm immer Befehle erteilt – aber er hatte sich ausgesucht, welche er befolgte, und den Rest ignoriert. Sie hätte ihn darauf angesprochen, aber er war wütend. Ganz verspannt vor Wut, bereit, jederzeit hochzugehen.
“Kaylin”, sagte Marcus.
Sie richtete sich auf, damit sie über Tiamaris’ Schulter sehen konnte.
Der Hauptmann schnaubte. “Du hast in den Kolonien nichts zu suchen. Sag dem alten Bastard, dass ich das gesagt habe.”
“Ja, Sir.”
Der Turm zog unter ihr vorbei. Es war interessant, ihn aus dieser Perspektive zu sehen, interessant und ein bisschen beschämend. “Ich kann gehen”, murmelte sie.
“Das wirst du noch früh genug müssen”, entgegnete Tiamaris. Er erklomm die Treppen, ohne anzuhalten, bis er die Türen erreichte, die, wie immer, bewacht waren. Dort blieb er stehen und setzte Kaylin ab.
Sie erkannte keinen der beiden Aerianer, und das war ungewöhnlich. Aber einer von ihnen, mit einem grimmigen Gesicht, nickte Tiamaris zu. “Der Lord der Falken wartet”, sagte er ruhig. “Er bittet Euch, einzutreten.”
Tiamaris nickte.
Kaylin starrte die beiden einen Augenblick an, ging dann an den Wachen vorbei und verzog das Gesicht, als sie ihre Hand auf das Siegel an der Tür legte. Was für ein toller Abschluss für einen viel zu langen Tag.
Doch der Falkenlord musste sie bereits erwartet haben, denn die Tür öffnete sich, ehe sie sie berührt hatte. Erstaunt sah sie dabei zu, bis sie sich an die zwei Fremden hinter ihrem Rücken erinnerte. Dann drückte sie ihre Schultern durch und betrat den Raum. Lord Grammayre wartete tatsächlich, allerdings nicht in der Mitte des Raumes. Stattdessen stand er vor einem hohen, ovalen Spiegel an der östlichen Seite der gewölbten Wand. Ihre Augen trafen sich im Spiegelbild, seine blickten kühl.
Dann war es schlimm. Es gab Tage, an denen sie ihm tatsächlich ein Lächeln entlocken konnte. Tage, an denen sie ihn zum Lachen brachte, auch wenn sein Lachen kurz und grollend war. Es gab auch Tage, an denen sie ihn dazu brachte, seine Stimme aus Wut gegen sie zu erheben. Alle diese Tage schätzte sie.
Nichts davon würde heute Nacht geschehen.
“Lord Grammayre”, sagte sie und beugte sich steif in der Taille, ehe sie sich auf ein Knie fallen ließ. Sie musste eine Hand auf den Boden stützen, um das Gleichgewicht zu halten, und gab alles in allem eine armselige Vorstellung ab.
Tiamaris, theoretisch auch ein Falke, beugte oder kniete nicht. Er bot dem Falkenlord ein Nicken an, das zwischen Gleichgestellten als höflich angesehen werden würde. “Lord Grammayre”, sagte er ruhig.
“Tiamaris. Du hättest sie fast verloren.”
Tiamaris sagte nichts.
“Kaylin. Erhebe dich.”
Sie stand auf. Sie
hasste
die Formalitäten im Turm mehr als fast alles andere – weil Formalitäten Distanz
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